Der Natur abgeschaut – ein spannendes Fachgebiet
In der translation industry sprechen alle von Spezialisierung. Gut so. Aber Spezialisierung ist nicht Spezialisierung. Nachlesen, wo Spezialisierung anfängt, können Sie in meinem Blogbeitrag „Übersetzer: Spezialisierung“ und „Nischenfachgebiete„.
Nach und nach will ich spezielle Fachgebiete skizzieren, die ein sicheres gutes Einkommen für (gute) Fachübersetzer bedeuten. Heute …
BIONIK
„Es genügt eben nicht, dass Technik gut funktioniert. Sie muss auch in die Welt passen“, meinte der Wissenschaftsjournalist Gero von Randow. Genau das ist das Ziel der Bionik.
Der Begriff Bionik setzt sich zusammen aus Biologie und Technik und beschreibt das kreative Umsetzen von Anwendungsvorbildern aus der Biologie in die Technik. „Bionik verbindet in interdisziplinärer Zusammenarbeit Biologie und Technik mit dem Ziel, durch Abstraktion, Übertragung und Anwendung von Erkenntnissen, die an biologischen Vorbildern gewonnen werden, technische Fragestellungen zu lösen“ (VDI 6220). Biologische Vorbilder im Sinne dieser Definition sind biologische Prozesse, Materialien, Strukturen, Funktionen, Organismen und Erfolgsprinzipien sowie der Prozess der Evolution. Spannend ist dabei, dass die Bionik für jede konkrete technische Fragestellung aus Vorbildern der Natur Antworten und Lösungen finden kann. Durch die Evolution und Biodiversität haben sich Lebewesen jedem verfügbaren und noch so unwirtlichen Lebensraum angepasst.
Beispiel 1: Die Birkenfeige („Ficus Benjamini“) ist in Asien und Australien beheimatet und hat von dort aus ihren Siegeszug als Zimmerpflanze auch in Europa angetreten. Sie verfügt über eine erstaunliche Eigenschaft: Wird die Pflanze verletzt, sorgen ein Protein und im Milchsaft enthaltene Latexpartikel für einen perfekten Wundverschluss.
Diese Eigenschaft ist das Vorbild für Wissenschaftler, sog. selbstreparierende Elastomere zum Beispiel für Auspuffaufhängungen, Schwingungsdämpfer, Faltenbälger usw. zu entwickeln. Bei Dichtungsringen in Großanlagen ist das ein besonders interessanter Ansatz, da das Freisetzen von Emissionen und auch Leckageverluste so vermieden werden.
I think the biggest innovations of the 21st century will be at the intersection of biology and technology. A new era is beginning.
Steve Jobs, Apple Gründer
Beispiel 2: In den Blutgefäßen wird das Blut durch den menschlichen Körper transportiert. So wird jede einzelne Zelle des Körpers mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt, und Stoffwechselendprodukte aus den Zellen werden zu den Ausscheidungsorganen befördert. Zusammengenommen erreichen die weit verzweigten Blutgefäße im menschlichen Körper eine Länge von bis zu 90.000 Kilometern – das entspricht mehr als dem Doppelten des Erdumfangs. Das Herz ist die zentrale Pumpstation – sie schlägt im Leben durchschnittlich drei Milliarden Mal und befördert über 18 Millionen Liter Blut durch den Körper.
Die „Konstruktion“ der menschlichen Blutbahnen ist weder seriell noch parallel aufgebaut. Dieses Konzept der mehrfach verzweigten Strukturen, die mathematisch als „Fraktale“ beschrieben werden, haben Techniker eines Unternehmens zusammen mit einem Fraunhofer Institut erforscht und umgesetzt, um in Solarabsorbern von Wärmetauschern eine effiziente Durchströmung zu erreichen und Druckabfall zu verhindern. Diese Probleme machen Wärmetauscher nämlich energieineffizient. Die neue, bionische Technologie ist bereits am großen Markt moderner Heizsysteme angekommen.
Und wir alle kennen den Klassiker der Bionik, den Lotuseffekt: Wasser und Schmutzpartikel perlen von der Lotusblume einfach ab – hier ist nachzulesen, welchen Nutzen wir davon haben.
Das Fachgebiet für Übersetzer
Inzwischen gibt es zahlreiche (über 30!) Hochschulen mit Bionik-Angeboten, wie zum Beispiel das RWTH Bionik Zentrum in Aachen, das Fachgebiet für Strömungslehre und Aerodynamik (SLA) in Darmstadt, die Hochschule Hamm-Lippstadt (Bionik und Photonik), neben Bayreuth (Biomaterialien), Berlin (FG Bionik), Bonn, Bremen, Ilmenau, München, Rhein-Waal (Bionics/Biomimetics), Saarbrücken, Stuttgart oder auch Villach in Österreich, um nur einige zu nennen.
Empfehle ich Ihnen allen Ernstes, ein Bionikstudium zu beginnen? NEIN. Aber wenn Sie das Fachgebiet interessiert, gehen Sie wie folgt empfohlen vor:
>>> Besorgen Sie sich Infomaterial und recherchieren Sie im Internet, um einen guten Überblick zu bekommen, was Bionik ist und was Wissenschaftler und Techniker damit machen können.
>>> Suchen Sie nach Videofilmen auf YouTube und anderen Kanälen: zum Beispiel „Mit Bionik in die Zukunft“, „Wie aus Geckofüßen Hightech wird“, „Die rollende Spinne“ oder auf Studyflix. Mit dem Suchwort „Bionik“ bekommen Sie unzählige Angebote.
>>> Legen Sie dabei gleich von Anfang an ein Glossar an, d. h. notieren Sie Fachbegriffe, auch Wörter, die Ihnen geläufig sind, jedoch vielleicht nicht in dem Kontext.
>>> Ermitteln Sie, wo Sie zum Beispiel an einer Hochschule als Gasthörer an einer Vorlesung teilnehmen könnten. Rufen Sie dort an, versuchen Sie, mit dem zuständigen Prof in Kontakt zu kommen, die meisten freuen sich über Interesse „von außerhalb“.
>>> Es gibt für den ersten Schritt zahlreiche populärwissenschaftliche Bücher, mit denen die Wissenschaft Bionik ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verankern versucht. Kaufen Sie sich das eine oder andere Buch (steuerlich absetzfähig). Fangen Sie zum Beispiel mit einem Schulbuch an: Bionik – Experimente für die Schule, HIT-Meister, Duden Paetec, ISBN: 978-3-8355-3132-1, Buchtyp: CD-ROM, Schuljahre: 7-10. Das ist ein guter Einstieg.
>>> Es werden zahlreiche Fachzeitschriften zu dem Thema herausgegeben, viele auch in englischer Sprache. Beispiele: Applied Bionics and Biomechanics; International Journal of Design and Nature; Journal of Bioinspiration & Biomimetics.
>>> Suchen Sie am Anfang nach kostenlosem Unterrichtsmaterial wie zum Beispiel dieses hier. Auch das Kompetenznetzwerk Biokon bietet auf seiner Website eine Menge Infos.
>>> Erkundigen Sie sich nach Vorträgen und vor allem Messen rund um das Thema Bionik. Eine ganz wichtige Messe, für die Sie mehr als nur einen Tag brauchen, ist die Hannover Messe. Gerade dort kommen Sie am ehesten mit den Menschen, die in diesem Fachgebiet zusammenarbeiten in Kontakt: Biologen, Ingenieure, Architekten, Physiker, Chemiker, Materialforscher usw.
Der menschliche Schöpfergeist kann verschiedene Erfindungen machen (…), doch nie wird ihm eine gelingen, die schöner, ökonomischer und geradliniger wäre als die der Natur, denn in ihren Erfindungen fehlt nichts, und nichts ist zu viel.
Leonardo da Vinci, Künstler und Universalgelehrter
Was gehört alles zu Bionik im weitesten Sinn?
Biomechanik, Biophysik, Biorobotik, Biosystemtechnik, Energietechnik, Evolution, Konstruktionstechnik, Medizintechnik, Mikro-/Nanotechnik, terrestrische Mikrobiologie und vieles mehr, Felder genug, die sich für echte Übersetzerprofis eignen.
Damit können Sie sich auf die Suche nach potenziellen Kunden begeben: Wer forscht? Welche Unternehmen sind bereits aktiv?
Zum Beispiel einige Fraunhofer Institute, das KIT in Karlsruhe, aber auch Firmen wie ZIEHL-ABEGG, Festo, Lipotype GmbH in Dresden, Evotec AG in Hamburg, Cryondo GmbH in München, Tetec AG in Reutlingen und viele mehr. Auch kleinere, weniger bekannte Firmen nutzen Bionik-Anwendungen, zum Beispiel Firmen, die im Bereich Prothetik tätig sind.
Habe ich Ihnen das Fachgebiet Bionik ein wenig schmackhaft gemacht?
Viel Freude und viel Erfolg!
(*) Hinweis: Im Sinne einer besseren Lesbarkeit deckt in diesem Beitrag das generische Maskulinum (z. B. der Übersetzer, Freiberufler, Unternehmer) sowohl die weibliche und männliche Form als auch das dritte Geschlecht ab. Dies ist in keinem Fall als Zeichen einer Diskriminierung zu werten.
Beitragsbild im Header: Arul auf Pixabay, vielen Dank.