Wie Franzosen küssen

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Wie Franzosen küssen

Ein, zwei, drei oder vier Mal?

Spätestens nach dem ersten Etappensieg bei der legendären und nicht mehr ganz so beeindruckenden Tour de France wird der Nicht-Franzose entlarvt: Vor jubelndem Publikum und laufender Kamera wird er von zwei hübschen jungen Frauen geküsst, und jetzt zeigt sich, wer geübt ist … in der Disziplin „faire la bise“.

Wer hat ihn erfunden, den Kuss, und warum küssen wir? Angeblich hat die Philematologie, die Wissenschaft vom Küssen, noch keine Antworten auf diese Fragen gefunden. Doch eines ist klar: Beim Küssen wird die imaginäre Grenze der physischen Intimsphäre durchbrochen. Und genau da ist der Knackpunkt, denn die sog. Distanzzone beginnt in jedem Land bzw. in jeder Kultur woanders. Während sie in Deutschland und in der Schweiz bei etwa 60 bis 80 cm, also etwa einer Armlänge, liegt, befindet sich diese „Grenze“ bei Franzosen bei etwa 40 bis 50 cm. In Frankreich sowie in Spanien, Italien und Portugal, ja, sogar in den USA werden eine größere physische Nähe und ein stärkerer Körperkontakt zugelassen als in Deutschland oder Großbritannien.

Franzosen sagen sich nicht einfach nur bonjour, wenn sie sich (gut) kennen. Sie küssen und berühren einander – an der Schulter, am Arm… Ils se font la bise, sie geben einander mindestens zwei bis fünf Wangenküsse. In Paris sind es eher „nur“ zwei, in der „province“, wie das übrige Frankreich genannt wird, bis zu fünf. Im Internet gibt es sogar eine sog. „carte de la bise“ – hier oder hier, aus der hervorgehen soll, wo man wie viele Küsschen gibt. Für die Richtigkeit  übernehme ich keine Garantie. 🙂

Schon früh lernen die Kinder: „Allez, va faire la bise à Tonton Jacques“. Das sind dann mindestens zwei Küsschen. In der Schule begrüßen Freundinnen jeden Morgen einander mit Küsschen-Küsschen und verabschieden sich am Ende des Schultags ebenfalls mit dem gleichen Programm. Zwei, drei, vier oder fünf Wangenküsse. Ebenso Arbeitskollegen und -kolleginnen. Männer küssen Männer und Frauen – und umgekehrt. Natürlich beehrt man seinen Vorgesetzten nicht mit Küsschen-Küsschen, man wartet, bis dieser einem diese traditionsreiche Verhaltensweise anbietet, so wie man in Deutschland das „Du“ angeboten bekommt. Die Kunst beim Begrüßungsküsschen ist zu wissen, wo man beginnt. Links oder rechts, damit es kein Zusammenstoß gibt. In der Regel geht es so los, dass jeder zuerst seine rechte Wange anbietet, also sein Gesicht leicht nach links dreht.

Wer von Ihnen im Rahmen eines Schüleraustauschs in Frankreich war, kennt diesen Albtraum: Die Gastfamilie holt einen am Bahnhof oder Flughafen ab, mit allen Kindern, Omas, Opas, Tanten und Onkeln, und alle wollen einen abküssen. Der Schock ist groß. Man versucht, sich daran zu gewöhnen, und steht da, steif wie ein Stock, mit spitzen Lippen und hängenden Armen und übt sich im „Luftküssen“, wie andere an der Luftgitarre. Nach ein paar Tagen, spätestens jedoch nach ein paar Wochen – wenn man das Glück hat, länger zu bleiben – ist das kein Problem mehr: faire la bise gehört zum Alltag. Der Kuss – sozusagen ein Muss.

Wer zu einer Geburtstagsparty kommt, küsst sich durch die Meute der geladenen Gäste – da muss er/sie durch, bis er/sie sich am Buffet bedienen kann. Franzosen finden das Verhalten der Deutschen, die ein fröhliches Hallo, eventuell untermalt durch ein Klopfen auf den Tisch oder ein kurzes Winken, in die Runde rufen, extrem distanziert, ja fast unfreundlich. Zugegeben: Das Begrüßen mit Küsschen ist in Deutschland im Kommen, spätestens seit den herzlichen Umarmungen und dem Busserl-Austausch zwischen Angela Merkel und Nicolas Sarkozy ist der Trend salonfähig geworden. Dennoch ist das freundliche Herzen noch lange nicht so ausgeprägt wie in Frankreich und wird in Deutschland immer noch misstrauisch beäugt. Im Oktober 2008 schrieb N24-online noch: „Eines ist klar: Im Büro hat diese Art Vertrautheit nichts verloren. […] Denn belanglos und oberflächlich ist das Busseln gar nicht. Vielmehr kann es zum wahren Ritterschlag werden“. Auch Deutschlands vielgelesenes Frauenmagazin Brigitte warnt: „Im Geschäftsleben bleibt es immer beim Händedruck. Hat man sich beruflich gut kennen gelernt und trifft sich auf einer Veranstaltung, kann es vorkommen, dass man sich mit Küsschen begrüßt. Das sollte aber die Ausnahme bleiben und nicht auf die Arbeit übertragen werden“. Wie schade…

Irgendwo habe ich gelesen, dass der laut Meinungsforschern definierte und uns als Max Mustermann aus Musterhausen bekannte geschlechtsneutrale Durchschnittsdeutsche – natürlich auch dessen Frau Maxi – in 70 Lebensjahren durchschnittlich 110.000 Minuten mit Küssen verbringt – das sind rund 76 Tage. Nicht viel. Angesichts der in Frankreich üblichen Küsserei dürfte der Durchschnittsfranzose, also Monsieur Hixe aus Hixeville, gefühlte sechs Jahre seines Lebens mit Küssen beschäftigt sein. Das gleiche – mindestens – gilt für dessen Frau.

Übrigens: Einige der Tour de France-Etappensieger haben eine der beiden auf dem Siegerpodest küssenden dames d’honneur  später geheiratet, so zum Beispiel der Franzose Christophe Moreau und der Belgier Gert Steegmans. Da soll noch einer sagen, Küssen führe zu nichts.

Vocabulaire:

le baiser = der Kuss, der Liebeskuss
la bise (*) = das Küsschen, das Begrüßungsküsschen
embrasser quelqu’un = jem. einen Kuss geben
faire la bise à quelqu’un = jem. ein Küsschen geben
se faire la bise = einander ein Küsschen geben
tutoyer = duzen
vouvoyer = siezen
un copain, une copine = ein Kumpel, eine gute Freundin
mon meilleur ami = mein bester Freund
ma meilleure amie = meine beste Freundin
le Français lambda = der Durchschnittsfranzose

(*) la bise ist auch ein kalter Nord- oder Ostwind.

  1. […] vermisse ich die Nähe im Umgang, die sich auch in der Gepflogenheit niederschlägt, einander zwei, drei oder vier Mal zu küssen, wenn man sich trifft. In Deutschland bleibt man auf Distanz und berührt einander nicht. […]

  2. Hallo Giselle,
    sehr interessanter, aufschlußreicher Beitrag, und amüsant auch. Wenigstens eine Frage blieb für mich offen, und vielleicht kannst du diese Wissenslücke auch noch schließen: „le Français lambda = der Durchschnittsfranzose“ – wie kommt es zu dieser Bezeichnung? Das Lexikon bietet etliche Möglichkeiten, was Lambda bedeuten kann, aber welche trifft nun auf den Durchschnittsfranzosen zu?

    • Hallo Martin, danke für das Lob. Zu Deiner Frage zunächst die Erklärung auf Französisch: „λ est le symbole couramment utilisé pour désigner le paramètre dont dépend un objet mathématique. Lorsqu’on laisse ce nom en guise de paramètre, cela signifie qu’on ne souhaite pas préciser la valeur du paramètre, l’objet mathématique est donc le plus général de la variété envisagée.“ (Quelle: http://fr.wiktionary.org/wiki/lambda). Also verwendet man im Französisch das Wort lambda als Adjektiv, um anzuzeigen, dass sich der Begriff, auf den sich lambda bezieht, durch nichts hervorhebt = Durchschnitts-, Allerwelts-
      Konnte ich Dir damit weiterhelfen?

  3. Die „bise“ ist übrigens auch im türkischen Kulturkreis weit verbreitet, auch und gerade unter Männern. Es bleibt allerdings eher bei einer Berührung der Wangen, bei religiösen Menschen auch der Stirn. Der Handkuss ist hier noch sehr geläufig, allerdings nicht zwangsläufig bei Frauen, sondern generell bei älteren Personen. Der Jüngere verneigt sich, küsst die Hand der älteren Person und drückt sie als Zeichen der Ehrerbietung an die Stirn.

    • Ach, der Handkuss, ja, das waren noch Zeiten… 😉
      Interessant und „logisch“ zugleich, denn auch die Türkei zählt zu den Ländern, in denen die Distanzzone auch kleiner ist als in Deutschland.

      • Dann müßt Ihr mal nach Brasilien: Mein Kulturschock war die sofortige Umarmung und der Wangenkuß,….. ich komme aus Vorarlberg, wo man eher auf Distanz war…WAR…

        • Wie schön! Ja, andere Länder, andere Sitten. Das ist Vielfalt.

  4. Danke Giselle für diesen schönen und interessanten Text ! Ich stimme dir in allem zu, außer in der Aussage, dass in Frankreich Männer Männer küssen. Es ist außerhalb des intimen Familienkreises (leider) sehr selten. Männliche Verwandten küssen einander, aber männliche Freunde tun es eher nicht, so sehr sie um ihre Männlichkeit bangen.;-)

    • Schön, Didier, dass Dir der Artikel gefällt. Aber was die „Männer-Küsserei“ angeht, habe ich als Französin, die viele Jahre in einem französischen Unternehmen gearbeitet hat, ganz andere Erfahrungen. Da gab es durchaus nicht selten die „bise“ morgens, wenn man ins Büro kam. Und auch unsere männlichen Freunde tun es im Privatbereich. Wenn man sich trifft, dauert es immer eine Weile, bis die Prozedur vollbracht ist. Bei den älteren Männern ist es, so denke ich, eher Tradition, die Jüngeren machen sich über so etwas wie „Männlichkeit“ gar keine Gedanken mehr. Also, ich kenne es nur so.

  5. Stimmt, genau so war es, als die Gastfamilie mich mit verwirrend vielen Personen am Bus abgeholt hat! Daran hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht. Allerdings hat mich die Küsserei nicht verwirrt, meine Eltern sind Mitglieder in der Deutsch-Französischen-Gesellschaft und ich war es von klein an gewöhnt, vom Besuch abgeküsst zu werden.
    Dass die Schüler sogar beim Einsteigen in den Bus rechts und links an die Sitzenden Küsschen verteilen, fand ich allerdings sehr gewöhnungsbedürftig. 🙂

    • Aha, Daniela, das warst Du also sozusagen „eingewöhnt“. Und es stimmt durchaus, dass hier und da etwas übertrieben wird.

  6. Ein sehr schöner Beitrag! Über das Kussverhalten der Deutschen wußte ich ja schon einiges, über das der Franzosen eher wenig. Auf jeden Fall erinnert dieser Post mich daran, dass ich eigentlich schon lange über die niederländischen Begrüßungsrituale (im Gegensatz zu den deutschen) bloggen wollte …

    • Danke, Alexandra. Ja, die niederländischen Begrüßungsrituale – mit oder ohne Küsschen? – würden mich auch interessieren. Mach‘ das mal, ich bin gespannt!

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