Nein, mit Lust auf Schokolade oder auf des Nachbarn Auto hat das rein gar nichts zu tun.
Zwischen dem elsässischen Seltz und dem deutschen Plittersdorf verkehrt auf dem Rhein eine der nicht mehr allzu zahlreichen Gierfähren Deutschlands – und das auch noch kostenfrei für die Passagiere. Das veranlasst mich zu diesem Beitrag zum Thema Gieren (mit einem kleinen Glossar DE-EN-FR am Ende des Beitrags).
Definition
Der Begriff Gieren bezeichnet in der Technik die Drehung eines Körpers um seine Hochachse, auch Vertikalachse genannt. Das Wort kommt aus dem Niederdeutschen „gieren“, das „sich wenden“ bedeutet.
Konzentrieren wir uns auf den Bereich Fahrzeuge im weitesten Sinn, also auf Luft-, Wasser-, Raum- oder Landfahrzeuge (Pkw, Lkw, Schiff, Flugzeug, Helikopter usw., aber auch zum Beispiel Drohnen), bewegen wir uns im Thema Fahrzeugdynamik. Da geht es um die Beschreibung von auf ein Fahrzeug einwirkenden Kräften und daraus resultierend stattfindenden Bewegungen. Zur Veranschaulichung dieser Kräfte und Bewegungen ist ein Fahrzeugkoordinatensystem sinnvoll. Hiermit können wir für Kräfte, Momente, Geschwindigkeiten und Wege eine Richtung definieren.
Eine Bewegung um die Horizontalachse (X-Achse, Längsachse) nennt man Wanken oder Rollen, eine um die Querachse (Y-Achse) Nicken oder Stampfen, und bei einer Bewegung um die Hochachse (Z-Achse, Vertikalachse) spricht man von Gieren. Man spricht daher auch von Wankachse, Nickachse und Gierachse.
Aus diesen drei Grundrotationen ergeben sich die Größen Wankwinkel, Nickwinkel und Gierwinkel.
Bleiben wir nun beim Gieren.
Mit den Begriffen Gierrate oder Giergeschwindigkeit wird die Winkelgeschwindigkeit (vektorielle Größe in der Physik, die angibt, wie schnell sich ein Winkel mit der Zeit um eine Achse ändert) der Drehung des Fahrzeugs um seine Hochachse bezeichnet. Diese ist natürlich aufgrund der Kraft, die auf das Fahrzeug einwirkt, unterschiedlich groß. Bei Rotationen, also Drehbewegungen, spricht man auch von Rotationsgeschwindigkeit oder Drehgeschwindigkeit.
Gieren beim Pkw
Im Fahrbetrieb entsteht durch die physikalischen Kräfte ein Drehmoment um die Hochachse: das Giermoment. Übersteigt das Giermoment die Gesamtheit der Seitenführungskräfte an den jeweiligen Rädern, bricht das Fahrzeug aus. Hier hilft dann das Fahrassistenzsystem ESP (Elektronisches Stabilitäts-Programm, auch ESC für Electronic Stability Control oder Fahrdynamikregelung), das in Bruchteilen von Sekunden reagiert und das Auto stabilisiert, indem entweder das kurvenäußere Vorderrad beim Übersteuern oder das kurveninnere Hinterrad beim Untersteuern abgebremst wird.
Übrigens: Beim Pkw überschreitet die Gierrate selten ca. 5°/s auf Autobahnen und ca. 75°/s bei Parkvorgängen. Allerdings ist das Gierträgheitsmoment eine wichtige Einflussgröße für das „Pendeln“ von Anhängern.
Gieren beim Wasserfahrzeug
In der seemännischen Fachsprache bezeichnet der Begriff Gieren das ungewollte, wiederkehrende Ausscheren des Bootes oder Schiffes aus dem gesteuerten Kurs – auch hier als Folge einer Drehbewegung um die senkrechte Achse. Ursache ist entweder der Seegang, die Strömung bei einem Fluss und/oder der Wind (Luv- und Leegierigkeit). Die kinetische Energie des strömenden Wassers macht sich die Gierfähre (auch Seilfähre) zunutze, die ohne Motorkraft, also allein durch die Triebkraft der Strömung, den Fluss überquert: Die Fähre pendelt an einem langen Halteseil, das entweder am Flussgrund außerhalb der Fahrrinne fest verankert ist (wie bei einigen Gierfähren in Sachsen und Sachsen-Anhalt) oder zwischen zwei Masten (Pylonen) hoch über den Fluss gespannt ist (wie bei der Gierfähre Seltz-Plittersdorf). Lediglich durch die entsprechende Ruderstellung stellt sich die Fähre in die Strömung und wird so zum anderen Ufer bewegt.
Wie funktioniert eine Gierfähre?
Voraussetzung ist eine Fließgeschwindigkeit von ca. 2 km/h. Damit eine solche Gierfähre quer über einen Fluss getrieben wird, müssen zwei Kräfte in einem Winkel, der kleiner als 180° sein muss, zusammenwirken. Die eine Kraft [K1] wirkt auf das Stahlseil, an dem die Fähre beweglich angehängt ist. Dadurch wird verhindert, dass die Fähre durch die Strömung abgetrieben wird. Die Strömung des Flusses ist die andere Kraft [K2], die auf die Fähre wirkt. Damit beide Kräfte die Fähre in Bewegung setzen können, muss diese schräg zur Strömung gestellt werden. Durch den Strömungsdruck wird die Fähre mittels der resultierenden Kraft über den Fluss geschoben. Die Geschwindigkeit ist abhängig von der Stärke der Strömung. Ganz wenige Gierfähren haben gar keinen Außenbordmotor und arbeiten lediglich mit dem Ruder.
Geringe Betriebs- und Unterhaltungskosten und die völlige Emissionsfreiheit sowie die Attraktivität für Touristen sprechen für den Erhalt der Gierfähren.
Wer hat’s erfunden?
Die Technik der Gierseilfähre ist eine Erfindung des Niederländers Hendrik Heuck aus Nijmwegen. Er verwirklichte sie zunächst im Jahre 1657 (!) am heimatlichen Fluß Waal. Von dort setzten sich im 17. und 18. Jahrhundert die Gierseilfähren rasch gegen die Stak- und Ruderfähren durch.
Gierfähre Seltz-Plittersdorf
Eine hohe Dichte an Gierfähren gibt es in Deutschland auf der Elbe und der Weser. Auch auf dem Rhein gab es eine ganze Reihe dieser Gierfähren, die auch als „fliegende Brücken“ bezeichnet werden. Nach und nach wurden sie jedoch bis auf wenige Ausnahmen durch Motorfähren ersetzt. Eine dieser Ausnahmen ist die Gierfähre Saletio zwischen dem elsässischen Seltz und dem deutschen Plittersdorf (bei Rastatt).
Sie ist Anfang der 1950er Jahre als Ersatz für die am 3. Oktober 1939 durch die französische Armee zerstörte Schiffsbrücke in Betrieb genommen worden. Eigentümer ist seit 1998 der Conseil Général des Département du Bas-Rhin, der auch ihren Betrieb garantiert.
2005 kollidierte die Fähre mit einem Schiff und musste wegen erheblicher Beschädigungen außer Betrieb genommen werden. Reparatur und Beseitigung von Sicherheitsmängeln sollten über eine Million Euro kosten, sodass zunächst das endgültige Aus für die Gierfähre auf dem Plan stand. Schließlich setzten sich aber die Befürworter des Projekts durch, die die Bedeutung für den Tourismus im Nordelsass und für das Radfernwandernetz hervorhoben. Eine neue Gierfähre wurde mit EU-Mitteln, Geldern aus Paris und von regionalen Stellen gebaut. Während die alte Seilfähre zwölf Autos befördern konnte, haben jetzt nur noch sechs Autos Platz – das war aber mit Blick auf das Thema Tourismus, Radfernweg u. dgl. so gewollt. Außerdem sind die für Autos und Lkw befahrbare Rheinbrücke Wintersdorf sowie der Übergang an der Staustufe Iffezheim ganz nah.
Die neue Fähre Saletio ist ein Trimaran. Das blaue Fährschiff mit dem weißen Turm ist 25 Meter lang und 15 Meter breit. Es bietet Platz für 6 Pkw, 28 Fahrräder und 70 Personen. Es ist ebenfalls für Personen mit eingeschränkter Mobilität zugänglich. Die Zufahrtspontons an beiden Ufern und das Drahtseilsystem wurden ebenfalls erneuert. Die Überfahrt ist kostenlos und dauert nur wenige Minuten.
Kleines Glossar zu diesem Thema
Deutsch | Englisch | Französisch |
Gieren | yaw (yaw rotation) | lacet |
Gierfähre | reaction ferry | bac à traille, bac à chaîne |
Giermoment | yaw moment, yawing moment | couple de lacet |
Gierrate, Giergeschwindigkeit | yaw rate, yaw velocity | taux de lacet, vitesse de lacet |
Gierwinkel | yaw angle | angle de lacet |
Nicken (Stampfen) | pitch (selten: nick) | tangage |
Nickwinkel | pitch angle | angle de tangage |
Rollen (Wanken) | roll | roulis |
Roll-Nick-Gier-Winkel | roll-pitch-yaw angle | angle de lacet, tangage et roulis |
Rollwinkel | roll angle | angle de roulis |
X-Achse | roll axis | axe de roulis |
Y-Achse | pitch axis | axe de tangage |
Z-Achse | yaw axis | axe de lacet |