Gibt es so etwas wie Solidarität unter Übersetzern?
Eine interessante Frage, die es wert ist, genauer analysiert zu werden – und bei näherem Betrachten ist der Begriff „Übersetzer“ sicher durch viele andere Berufsbezeichnungen ersetzbar. Diese Frage stellte kürzlich meine Kollegin Tanya Quintieri sowohl auf Facebook als auch auf Twitter. Mich beschäftigte zunächst die Frage: Was verstehen wir unter Solidarität unter Übersetzern? „Zusammenhalten, Tipps geben usw.“, kommentierte eine Berliner Kollegin. Einverstanden, meinte ich im Faden und ergänzte spontan: „Toleranz gegenüber anderen Arbeitspraktiken und Ansichten, das Ausleihen eines ungenutzen Laptops, helfen, wo Bedarf ist, und im Notfall auch mal eine Monatsmiete oder den Wocheneinkauf im Supermarkt übernehmen“.
Erstaunt reagierten einige auf den Hinweis, dass man auch Solidarität zeigen könne, indem man einem Kollegen die Teilnahme an einer Konferenz eines Fachverbands oder an einer Weiterbildungsmaßnahme ermöglichen könne. Wie? Durch Übernahme der Teilnahmegebühr. Aber ja! Hin und wieder passiert auch so etwas, warum nicht.
Sicher häufiger zeigt sich Solidarität unter Übersetzerkollegen, wenn ein älterer Hase einen Berufseinsteiger kostenlos berät – das kann vom punktuellen Tipp bis hin zum regelmäßigen Coaching gehen und möglicherweise das Designen eines Logos, das Korrekturlesen der Website-Texte, dass Erstellen der Vorlagen für Visitenkarte, Angebot, Rechnung usw. und vieles mehr abdecken. Da gehen insgesamt schon einmal mehrere Dutzend Stunden drauf. Auch hier gilt: Alles freiwillig mit Freude am Helfen. Und ohne dass eine Gegenleistung erwartet wird.
Oft leiten Kollegen Jobs direkt weiter – ohne Vermittlungsmarge – weil sie keine freien Kapazitäten haben. Auch das ist Zusammenhalt. Ein junger Kollege kann den Auftrag nur annehmen, wenn ein erfahrener Kollege seine Übersetzung Korrektur liest? Da findet sich garantiert jemand – und sicher auch jemand, der die Aufgabe „for free“ oder gegen ein ganz geringes Honorar übernimmt.
Sie haben eine Website? Warum nicht auch ab und zu Kollegen und ihre Stärken vorstellen? Sie fürchten Konkurrenz? Und wenn – Konkurrenz belebt das Geschäft!
Sie meinen, damit würde man der „Alles-umsonst-Philosophie“ oder dem grassierenden Billigtrend Vorschub leisten? Mitnichten! Denn es handelt sich hier nicht um Auftraggeber, die sich die schwierige Situation eines Übersetzers zu Nutze machen. Im Gegenteil: Das ist gegenseitiges Unter-die-Arme-Greifen ja, das ist Solidarität.
Da ist ein Kollege, der durch tragische Umstände von heute auf morgen alles – Familie sowie Hab und Gut – verloren hat und wieder Fuß fassen will? Nicht in allen Fällen hilft in Deutschland das Sozialamt. Mit Hartz IV bei Null wieder anzufangen, ohne Wohnung, ohne Job und ohne Kontakte – da braucht es verdammt viel Kraft und Durchhaltevermögen. Und für diesen Kollegen ist der Erwerb eines noch so günstigen Laptops – das Basiswerkzeug in unserem Beruf – ein schier unüberwindbares Hindernis. Sie haben zuhause einen PC oder Laptop, den sie nicht nutzen? Stellen Sie ihn kostenlos zur Verfügung – zumindest bis der Kollege sich einen kaufen kann. Ideal wäre eine vom Fachverband organisierte „Börse“, die solche „Transaktionen“ organisiert.
Solidarität heißt natürlich nicht nur, die Lösung bei Geldproblemen parat zu haben. Solidarität, das ist ganz einfach da zu sein, ein offenes Ohr zu haben, ein Gespräch zum richtigen Zeitpunkt zu führen und Dinge mit Anregungen auf den Weg zu bringen – kurz: Zeit für den anderen zu haben. Und auch: Anstrengungen, die der andere unternimmt, anzuerkennen, Mut auszusprechen, gerechtfertigtes positives Feedback geben. Denn wir alle wissen: Meistens meldet man sich nur, wenn man unzufrieden ist oder etwas nicht gut findet.
Solidarität ist auch Fairness, Offenheit und die Bereitschaft, Erfahrungen zu teilen und ein Stück des Kuchens, den man sich möglicherweise auch hart erarbeitet hat, zurückzugeben. Warum? Ich finde, es muss gar keinen Grund geben. Das gehört sich so.
Gibt es „so etwas“ unter Übersetzern? Nach meiner Erfahrung kann ich diese Frage mit einem entschiedenen Ja beantworten. Merke jedoch: Solidarität hat nichts mit intensiven Facebook-Aktivitäten zu tun, die sich darauf konzentrieren, Tierfotos und flotte Sprüche zu teilen. Am Stammtisch teilzunehmen, kann den Beginn einer engeren kollegialen oder gar freundschaftlichen Beziehung fördern – Letztere kann, muss aber nicht unbedingt in Solidarität münden. Insofern darf man von solchen Aktivitäten nicht zu viel erwarten, denn sie sind meist oberflächlicher Natur, selbst wenn man einander zwei oder drei Mal im Jahr auf Konferenzen oder Kollegentreffen wiedersieht. Am Ende zeigt sich der solidarisch, der übrig bleibt und die Ärmel hochkrempelt, wenn einer „kann mir jemand helfen“ schreit. Mit flotten Sprüchen und Stammtischparolen hat man aber noch nie Probleme lösen können.
Solidarität ist ganz bestimmt nicht, sich im Zuge des Gruppenverhaltens auf den social media über Kollegen lustig zu machen, weil sie ein Thema so oder so angehen, fiese Anspielungen über andere Geschäftspraktiken oder -gewohnheiten zu machen oder gar jemanden zu boykottieren. Solche Sandkastenspielchen fallen irgendwann auf – ganz bestimmt nicht zum Vorteil der „Urheber“ – und zeugen nur von Unprofessionalität.
Ein interessanter Aspekt: Es scheint, als sei Solidarität in Deutschland bzw. unter Deutschen weniger ausgeprägt. Gleich vorweg: In meinen Adern fließt 50 % deutsches Blut, es geht mir hier nicht um das Anprangern einer Menschengruppe. Ich kann nur Deutschland bzw. die Deutschen einerseits zum Beispiel mit Franzosen oder mit Briten vergleichen. Ob in der Nachbarschaftshilfe, im Supermarkt, auf dem Baumarktparkplatz beim Einladen schwerer Gegenstände, beim Umzug, bei der Flüchtlingsfrage oder auch unter Übersetzern: Ich habe den Eindruck, dass in Deutschland noch viel Optimierungspotenzial vorhanden ist. Und klar: Verallgemeinern kann man das nicht.
Wer Solidarität mit seinen Mitmenschen, ganz gleich auf welcher Ebene und in welchem Bereich, an den Tag legt, ist in der Regel ein Mensch, der in sich zentriert ist, mit sich und daher auch mit seinen Mitmenschen im Gleichgewicht, mit seinem Lebensweg unterm Strich zufrieden ist. Das hat nichts mit Wohlstand zu tun – nicht selten zeigen sich Menschen solidarisch, die fast nichts haben und das Wenige, das sie besitzen, noch teilen. Und wer selbst am eigenen Leib erfahren hat, was es bedeutet, allein und ohne Geld dazustehen, der wird später, wenn es ihm besser geht, nicht davor zurückschrecken, ein Stück wiederzugeben.
Der Begriff Solidarität impliziert nicht nur den Zusammenhalt zwischen gleichgesinnten oder gleichgestellten Personen und Gruppen, man kann sich auch solidarisch mit Menschen oder Gruppen zeigen, denen man ganz einfach zur Seite stehen will. Heute sah ich einen Bericht über den Heidelberger Gynäkologen Wolfgang Heide, der trotz gut gehender Praxis in seiner Freizeit die Ausgegrenzten dieser Welt unterstützt, die keine oder kaum Fürsprecher haben: Obdachlose, ausgebeutete Prostituierte und über die Hilfsorganisation Humedica seinen Urlaub zum Beispiel in einem Flüchtlingslager in Äthiopien verbringt. Hut ab!
Solidarität? Ja, das gibt es. Und das ist schön.
Liebe Frau Chaumien,
Sie haben sehr Recht und es sehr schön praktisch beschrieben. Die positiven Beispiele finden teils auch in meinem Business statt. Die Kollegen sind untereinander sehr solidarisch und ziehen auch nicht zurück, wenn sie spüren, jemand macht es sich auf ihre Kosten bequem. Selbst unter den konkurrierenden Unternehmen gilt es als anständig, sich zu unterstützen.
Ich freue mich über einige Ihrer Detailausführungen besonders: Gute Anregungen und eine kluge Abgrenzung gegen das „Klugscheißer-Gen“, das nichts mehr mit Solidarität sondern mit Bevormundung zutun hat.
Danke für den guten Blog.
Liebe Grüße
Petra Schulte