KI: Droht den Übersetzern das Aus?

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KI: Droht den Übersetzern das Aus?

Ist KI eine Gefahr für den Übersetzerberuf?

KI ist im Bereich Übersetzen längst kein Gespenst mehr. Sie ist da. Google Translate, DeepL, ChatGPT & Co. – jeder kennt sie. Übersetzer (*) kennen sie erst recht. Vor allem, weil sich viele, die in diesem Metier tätig sind, große Sorgen um ihre Zukunft machen.

Die derzeitig angewendete Generation der Tools in der Sprachtechnologie arbeitet auf der Basis neuronaler Netze: Das ist die sog. Neural Machine Translation (NMT). Mit NMT-Modellen sind in der Übersetzungstechnik enorme Fortschritte erzielt worden, da sie mittels sog. Attention Layer (s. Erklärung im übernächsten Abschnitt) die Beziehungen zwischen Wörtern in einem Satz mit großer Zuverlässigkeit erkennen und die Übersetzungsqualität mittels Deep Learning eigenständig, sozusagen selbstlernend, verbessern.

Hinzu kommen jüngst die sog. Large Language Models (LLMs). Gerade hat DeepL, der Kölner Anbieter für KI-Sprachtechnologie, die Einführung der nächsten Generation seines Sprachmodells bekannt gegeben, die speziell für die Übersetzung und Bearbeitung von Texten entwickelt wurde. Das Update soll neue Standards für die Qualität und Performance von Übersetzungen setzen und sei für DeepL ein Meilenstein in der Weiterentwicklung seiner Sprach-KI-Plattform für Unternehmen, heißt es in der DeepL- Pressemitteilung.

Def. Der Begriff Attention Layer beschreibt einen Aufmerksamkeitsmechanismus. Dieser ist an intuitiv und unbewusst ausgeführte Vorgänge der menschlichen Wahrnehmung angelehnt. Er sorgt dafür, dass bestimmte Teile einer Eingabesequenz bei der Erstellung der Ausgabesequenz besondere Beachtung (Aufmerksamkeit) finden. In einfachen Worten beschrieben, wird die kontextuelle Bedeutung der zu prozessierenden Elemente besser berücksichtigt. Für die Übersetzung eines bestimmten Worts wird die Bedeutung anderer Wörter (beispielsweise am Ende eines Textes) stärker berücksichtigt. (Quelle: https://www.bigdata-insider.de/was-ist-ein-aufmerksamkeitsmechanismus-a-1109776/)

 

Nicht naiv sein

Es wäre naiv, die KI und ihre Fähigkeiten im Bereich des Übersetzens zu unterschätzen. Insbesondere auch deshalb, weil KI nicht auf dem Stand von heute stehen bleibt, sondern die Entwicklung kontinuierlich voranschreitet und heute niemand sagen kann, was KI in zwanzig oder fünfzig Jahren wird leisten können.

Wer mein Blog und mich kennt, weiß: Ich spreche nicht für Literaturübersetzer, da mir hierfür die Erfahrung und Kenntnis fehlt. Literaturübersetzer haben sich unter anderem in einem kleinen Videospot geäußert, warum sie in ihrem Job besser sind als die KI. Eine Beurteilung, ob die dargebrachten Argumente zutreffen oder nicht, will ich nicht vornehmen. Mein Fokus ist der Bereich Fachübersetzen, also das Übersetzen von Fachtexten für Industrie, Wissenschaft, Handel, Banken usw.

Einfach erklärt: KI beruht auf dem Rechnen, auf Wahrscheinlichkeitsrechnungen, und mit der Entwicklung der Aufmerksamkeitsmechanismen (Attention Layer) wird auch für die Maschine der Kontext wichtig, wird die bestimmte Bedeutung eines Worts in Bezug auf die anderen Wörter im Satz untersucht. Wir erhalten nicht selten übersetzte Texte 1. erstaunlich schnell und vor allem 2. überraschend genau.

 

KI für viele Kunden prima

Der erste Punkt ist für viele Kunden ein großer Vorteil, weil damit die Kosteneffizienz erhöht wird und die Arbeitsprozesse möglicherweise beschleunigt werden. Große Textmengen können in relativ kurzer Zeit relativ gut übersetzt werden.

Damit sind wir beim zweiten Punkt, der schon komplexer ist. Einerseits genügt vielen Kunden das Ergebnis der maschinellen Übersetzung, weil die Qualität einer Übersetzung oft (aus unterschiedlichen Gründen) nicht objektiv wahrgenommen wird. Andererseits reicht manchen Kunden die von der Maschine gelieferte Qualität vollkommen aus, weil sie lediglich wissen wollen, worum es im Text geht.

Fakten

Das internationale Institut CSA Research bezifferte den „global market for outsourced language services and technology“ im Jahr 2022 auf 52,01 Milliarden USD und ging für 2023 von einem Anstieg um rd. 6 % auf 55,10 Mrd. USD aus. Auch für die nächsten drei Jahre sieht das Institut eine Steigerung um jährlich ca. 6 % vor, was im Jahr 2026 zu einem Volumen von 65,54 Mrd. USD führen würde (Quelle hier).

Die einen sagen so …

Insofern ist auf den ersten Blick Arbeit für „alle“ da, allerdings verteilt sich das Auftragsvolumen differenziert auf folgende drei Gruppen:

  1. Große Allround-Agenturen, die auf dem sog. bulk market oft anspruchslose Kunden bedienen und hierfür zu lächerlich niedrigen Preisen unzählige „genügsame“ Zulieferer rund um den Globus finden und beauftragen.
  2. Kleinere Sprachdienstleister im KMU-Segment, deren Zulieferer in der Regel geringfügig mehr als die der Kategorie 1 erhalten.

Wir alle wissen, dass täglich genügend Menschen bereit sind, zu diesen Konditionen zu strampeln, und eine Million „Gründe“ finden, warum sie keine Wahl hätten. In Wahrheit zeichnen sie sich durch zwei Merkmale aus:

1.) die nicht vorhandene oder nicht ausreichende (echte) Spezialisierung und

2.) der mangelnde Wille, sich auf den Hosenboden zu setzen, um

  • einen lukrativen Spezialisierungsgrad (einschließlich Spezialisierungstiefe
    und -breite) zu erreichen (denn das bedeutet sehr viel Arbeit und Disziplin,
    Zeit und auch Geld) und
  • gut zahlende Direktkunden, die regelmäßig gute Aufträge erteilen,
    zu akquirieren.

Kollegen schreiben in ihren Blogs und in den social media von „düsteren Zeiten“, rückläufigen Umsätzen und Zukunftslosigkeit und raten zur Festanstellung und/oder beruflichen Neuorientierung. Das sind mutmaßlich diejenigen, die der Gruppe 1 und/oder 2 gehören: Übersetzer, die in der translation industry austauschbar sind, die von den Agenturen wie Spielfiguren eingesetzt werden.

… die anderen so

Gleichzeitig berichten andere Kollegen, dass sich KI nicht wesentlich auf ihr Business ausgewirkt habe, und fügen hinzu „im Gegenteil“. Wie kann das sein?

Na klar! Denn es gibt noch die dritte Gruppe, die ich oben angekündigt habe: die Solo-Unternehmer (*), die ihre präzise abgesteckten Kundensegmente bedienen; Übersetzer, die kontinuierlich von ihren (meist) Stammkunden mit Aufträgen versorgt werden, ohne akquirieren und ohne zeitraubende Angebote erstellen zu müssen (Stichwort Rahmenverträge); Übersetzer, die sich kontinuierlich weiterbilden, die dem Kunden einen Mehrwert bieten, für Kundenbindung sorgen. Wie oft habe ich DAS nicht schon erläutert, auch in meinem Fachbuch Das große 1×1 für selbstständige Übersetzer!

Ketzerische Frage

Warum sollten Kunden, für die das Ergebnis maschineller Übersetzung „gut genug“ ist, einen human translator bezahlen, der nicht besser oder sogar weniger gut ist?

Zugegeben: Manche Kunden verlangen einen Feinschliff nach der Maschine, ein sog. post editing, und zahlen dafür meist wenig Geld. Will ich das? Nein, ich definitiv nicht. Wollen Sie das? Diese Frage müssen Sie selbst beantworten, und die Entscheidung bleibt selbstverständlich Ihnen überlassen.

Die Ansprüche in der heutigen Gesellschaft haben sich verändert. Wir erleben es nicht nur in unserem Metier, sondern quasi überall, und dieses allgemeine Verhalten manifestiert sich auf ganz besonders flagrante Weise im Aufwind der Discounter: ein Kilo Brot zu 2,50 €, ein Brötchen zu 29 ct., ein Kilo Rinderhack zu 5,99 € usw.

Würden sich alle Menschen ausschließlich beim Discounter mit Lebensmitteln und anderen Produkten eindecken, gäbe es keinen Fachhandel mehr. Und erst recht keinen Wochenmarkt mehr. Aber es gibt den Fachhandel und den Wochenmarkt noch.

Und genau so ist es in der translation industry.

Spreu und Weizen

In allen Bereichen wurde schon immer die Spreu vom Weizen getrennt, das gilt angesichts der KI-Entwicklungen, die wir erleben und uns noch bevorstehen, mehr denn je. Daher gilt es für Sie zu wählen: Wozu wollen Sie gehören?

Unser Kollege Kevin Hendzel hat bereits 2017 in einem exzellenten Blogartikel ein eindrückliches Bild gezeichnet: Da wurde einmal die Digitalkamera erfunden – super! Und plötzlich gab es Smartphones, mit denen der Nutzer auch fotografieren kann – und gar nicht mal schlecht. Und das neue Wundergerät hat man auch noch immer dabei, es ist nicht schwer, ist einfach zu bedienen und bietet immer neue Features. Warum sollte heute noch jemand eine Digitalkamera kaufen, fragte Kevin in seinem Artikel. Das tun ganz sicher nur sehr wenige. Und damit wurde GT und später DeepL das Smartphone von heute, schreibt Kevin Hendzel weiter.

Fakt ist: Es gibt sie durchaus noch in ausreichender Menge, die Kunden mit hohem Qualitätsanspruch, die großen Wert auf ausgezeichnete, sprachlich exakt ausgefeilte, dem Zweck, der Zielgruppe, Sprachebene usw. angepasste fremdsprachliche Texte legen. Und die bereit sind, entsprechende Honorare dafür zu bezahlen (> 30 ct./Wort). Ich bin gerade seit ein paar Tagen dabei, eine Akquise-Aktion durchzuführen. Ergebnisse: coming soon.

Es hat alles einen Preis im Leben

Doch um in diesen Markt hinaufzuklettern und seinen unangefochtenen Platz darin zu finden, bedarf es eines enormen persönlichen Einsatzes, bei dem die hohe (echte) Spezialisierung der Hauptaspekt ist. Unternehmerisches Denken, professionell arbeiten, sich gut verkaufen, verbindliches Auftreten – das ist die eine Hälfte des Wegs. Und seien wir ehrlich: Das Getue um „ich mag nicht telefonieren“ und Argumente wie „auf mein Angebot hat sich der Kunde nicht mehr gemeldet“ zeugen von mangelndem Unternehmergeist und bringen doch niemanden weiter!

Die Fachkompetenz ist der Schlüssel, der Königsweg. Nicht die 325 Fachbegriffe in der translation memory, die abgerufen werden, sondern das Fachwissen, das Sie haben. Sie müssen in der Lage sein, mit dem Mediziner, dem Juristen, dem Physiker, dem Reifenspezialisten, dem Seismologen usw. den Fachbegriff im Detail zu erörtern, eventuelle Fehler im Quelltext sofort zu erkennen und ein Ergebnis zu produzieren, das sich wie ein exzellentes Original liest.

„If you are not able to do that — if you are not able to discuss the law in that detail with 5 different translation options, and a solid reason based on the subject-matter with a lawyer (or engineer, or banker, or physicist, or certified financial analyst) – then you are not there yet. So your level of specialization should be on a level equivalent to a practitioner in that field.“
Kevin Hendzel

Um auf meine Anfangsfrage zurückzukommen: Nein, dem professionell arbeitenden, hochspezialisierten, proaktiven Übersetzer droht nicht das Aus.

Aber: Jammern, Klagen, immer wieder dieselbe Leier von schlecht zahlenden Kunden und solchen, denen die Qualität der Übersetzungen egal ist, von sich geben – das bringt nichts. Handeln Sie! Sie haben im o. g. Fachbuch und in meinen Blogposts hier auf Rüsterweg sowie in einigen anderen qualifizierten Blogartikeln genügend Tipps, Methoden, Ideen, Empfehlungen u. dgl. auf dem Tablett. Greifen Sie zu, nutzen Sie sie!

 

(Header-Bild „artificial-intelligence-3382507_1280“ von Gerd Altmann, Pixabay, vielen Dank)

(*) Hinweis: Im Sinne einer besseren Lesbarkeit deckt in diesem Beitrag das generische Maskulinum (z. B. der Übersetzer, Freiberufler, Unternehmer) sowohl die weibliche und männliche Form als auch das dritte Geschlecht ab. Dies ist in keinem Fall als Zeichen einer Diskriminierung zu werten.