Quo vadis Gesprächskultur?

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Quo vadis Gesprächskultur?

Kommunikation: ständig alles und jede(n) missverstehen.

Wow, so ein schönes Kleid“, sagt sie vor dem Schaufenster, woraufhin er sofort mault: „Du hast doch den ganzen Schrank voll“.

Schau mal, wie praktisch das ist“, meint er vor dem Sonderangebot im Discounter-Laden, was ihm ein „sowas brauchen wir nicht“ von ihr einbringt.

Solche und ähnliche Fälle kennt sicher jedes Paar. Als Missverständnis kann das wohl nicht durchgehen, vielmehr als Interpretation und Überspringen einer notwendigen Rückfrage: „Hast du vor, das zu kaufen?“.

Was hier harmlos daherkommt oder bei dem einen oder anderen Pärchen vielleicht zum Streitgespräch führt, ist seit einiger Zeit zur Normalität geworden – insbesondere in den social media, also in der schriftlichen Kommunikation. Alles und jede(r) werden missverstanden, umgedreht, interpretiert, aus dem Kontext gerissen und mit der eigenen Denkweise einpüriert. Und nein: Ich spreche nicht von populistischen Foren, sondern von einer Form der Kommunikation, die intelligente Menschen seit einigen Jahren praktizieren.

Was ist los in der Kommunikation?

Es macht sich eine neue Form der „Leseinkompetenz“ breit.

Anders als in den eingangs angeführten lapidaren Beispielen geht es um das systematische, gezielte Missverstehen(-wollen), das mit dem Einsatz von etwas Hirnmasse UND einem Quäntchen Sachlichkeit vermieden werden könnte. Bezeichnend ist, dass diese höchst unangenehme Verhaltensweise meist von durchaus intelligenten Menschen an den Tag gelegt wird. Oder ist das gar eine gezielte Taktik?

Die Hermeneutik, deren Namenspatron der Götterbote Hermes ist, ist die Kunst der Vermittlung, die auf einer grundlegenden Tugend ruht, dem (hermeneutischen) Wohlwollen. Dieses scheint heute in den social media, seriösen TV-Debatten und anderen Orten der (seriösen, vernünftigen) öffentlichen Kommunikation vielfach abhanden gekommen zu sein.

Das Ganze spielt sich auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Bereichen ab.

Es fängt damit an, dass viele das „Zwischen-den-Zeilen-Lesen“ verlernt haben oder gar konsequent ablehnen. Eine zweite Form ist die mutwillige Fehlinterpretation. Beide Situationen könnten durch einfaches Nachfragen („Wie meinen Sie das?“) gelöst werden. Eine dritte weitaus gefährlichere und vor allem boshafte Form ist die radikale Überbeurteilung. Beispiele: Wer eine eine Aussage eines GRÜNEN-Politikers in Zweifel stellt, ist zwangsweise CDU-Anhänger. Wer die Aktionen der Aktivisten der Letzten Generation als Straftaten bezeichnet, ist zwangsweise gegen Klimaschutz. Wer eine bestimmte Aussage von Dieter Nuhr für zutreffend hält, unterschreibt zwangsweise alle seine Aussagen. Und so weiter und so fort.

Nein, solche „Lesefehler“ – die fehlende Kompetenz, Sätze im Kontext zu verstehen – haben nichts mit mangelnder Schulbildung à la PISA-Studie zu tun. Diese Leseinkompetenz ist vielfach – natürlich nicht überall und bei jedem/jeder – gewollt. Da will jemand beweisen, dass er/sie sich auf der richtigen Seite, in der richtigen Blase, die political correct ist, bewegt. Andersdenkende werden ignoriert, fehlinterpretiert oder angegriffen. Der Andersdenkende kann nur der schlechtere Mensch, er kann nur gegen Klimaschutz, er kann nur CDU-Anhänger sein usw. Nachfragen? Nachdenken? Fehlanzeige.

Kurios ist tatsächlich, dass diese Leseinkompetenz vor allem in intellektuellen Kreisen praktiziert wird: zum Beispiel bei Autoren, Journalisten, Künstlern, aber auch bei Textern und Übersetzern. Eigentlich sollten gerade diese Menschen besonders gut lesen und verstehen können, ja, sogar die Kunst beherrschen, zwischen den Zeilen zu lesen. Während meine einfach gestrickte Nachbarin sagen würde „das ist sicher nicht so gemeint“, fährt der politisch interessierte Intellektuelle seine verbalen Krallen aus und behauptet, man sei Rassist, Faschist, Sexist oder steckt einen ohne viel Gedöns in den Sack der ganz bösen und unerträglichen [beliebig bezeichnen]. Das Radikale, Unnachgiebige ist dabei gefährlich. Es fehlt vielfach der gesunde Menschenverstand, der einem zum Beispiel sagt: Nur weil XY der GRÜNEN-Partei beigetreten ist, muss er/sie doch nicht ausnahmslos alles, was von dieser Partei kommt, für gut befinden und gleichzeitig alles andere verteufeln. Eigentlich ist eine solche Haltung kindisch, aber de facto ist sie gefährlich.

Es kann so einfach sein

Ja, das Verstehen des Gegenübers ist ein subjektiver Vorgang. Ja, meine Lebensgeschichte, Erinnerungen und Gefühle, Vorlieben, Kenntnisse, Assoziationen usw. prägen mein subjektives Verstehen des Anderen. Aber es ist kein unbeeinflussbarer Zufall, ob Verstehen gelingt und wie gut es gelingt. Diese Kunst kann eingeübt und weiterentwickelt werden. Sich auf etwas einlassen heißt die Zauberformel – das bedeutet nicht, dass ich die andere Position schlucke. Keineswegs. Offenheit statt Fokussierung auf die eigene Meinung, Akzeptanz für die grundsätzliche Tatsache des Andersdenkens und des anderen Verständnishorizonts, Interesse für (mir) Fremdes, Unvertrautes, Unbekanntes … und einfaches Nachfragen – das alles hilft.

Es geht um eine Art „Vorverständnis“: Ja, es gibt diese oder jene Denkweise, auch wenn ich sie nicht teile, kann ich mich mit der Person, die sie teilt, konstruktiv austauschen. Respektvoll. Würdevoll. Ohne ein Feuerwerk von „Beweismitteln“ (Argumenten, Links usw.), dass diese Person im Unrecht ist. Dem Gegenüber mit Vertrauen zu begegnen und die bisherige eigene Meinung als „auch denkbar“ (statt „ausschließlich denkbar“) anzusehen, ist eine mutige intelligente Art der Kommunikation, die den eigenen Horizont erweitern. Den Andersdenkenden in eine Ecke zu stellen mit einem Urteilslabel auf der Stirn, zeugt dagegen von Schwäche und Dummheit. Ohne den Willen, das Gegenüber zu verstehen, droht unsere Gesellschaft zu verrohen. Und das wollen doch die wenigsten. Oder? Ich will es auf jeden Fall nicht.

 

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