Wie abseits der Trampelpfade der Erfolg sicher ist
In meinem Artikel zum Thema Spezialisierung habe ich erläutert, was damit gemeint ist und wie sich Übersetzer(*) spezialisieren können. Darin wurde auch das Nischenfachgebiet kurz angesprochen.
Ein Nischenfachgebiet oder kurz Nischengebiet ist im Translationsmetier ein Bereich, den eine begrenzte Zahl von Dienstleistern bedienen, wodurch sich höhere Wortpreise(**) ergeben.
Manche Übersetzer entscheiden sich – aus ganz unterschiedlichen Gründen – bewusst und gezielt für ein bestimmtes Nischengebiet, bei anderen ist es eher Zufall, wobei der Erwerb der Nischenfachkompetenz bei beiden ein nie endender Prozess, ein langer Weg ist. Beide Ansätze führen zum Ziel und verschaffen enorme Vorteile, wenn man sich einen Namen gemacht hat: Der Kunde sucht den Übersetzer und nicht umgekehrt. Dadurch entfällt die für viele Kollegen offensichtlich ungeliebte und ganz sicher zeitraubende Akquise, daraus ergeben sich lukrative Aufträge und oft auch Rahmenverträge, um nur zwei große Vorteile zu nennen.
Technik als Allroundantwort
Beispiel Technik: Auf die Frage nach ihrer Spezialisierung antworten viele „ich übersetze technische Texte“ – was bei genauem Nachdenken etwas anderes ist als „ich habe mich auf Technik spezialisiert“ oder „ich übersetze Technik“ (die beiden letztgenannten Formulierungen sind sehr häufig zu hören oder zu lesen). Technik (auch Technikwissenschaften oder technische Wissenschaften) umfasst so viele Disziplinen, dass kaum jemand alle bis ins Detail beherrschen kann: von Abfallwirtschaft bis Verpackungstechnik über Elektrotechnik, Forstingenieurwesen, Mechatronik, Medizintechnik, Textiltechnologie, Verkehrswesen und viele mehr.
Nischengebiet: Wie geht das? Ein Beispiel
Bei Frau Übifix, an die sich einige von Ihnen vielleicht noch aus meinen früheren Blogartikeln erinnern, ergab sich das alles wie folgt:
Im Studium der Translation hat sich Frau Übifix unter anderem für das Sachfach Technik angemeldet und in den Übersetzungsübungen im Verlauf der Semester die Themen Kfz-Elektrik, Kunststoffe, Navigationsgeräte und Abfallwirtschaft von ihren Dozenten vorgelegt bekommen. So konnte sie sich mit technischen Texten und deren Fachvokabular etwas vertraut machen und einen Einblick bekommen, WIE ein Fachübersetzer an einen technischen Text herangehen sollte. Verständlicherweise konnte sie keines der genannten Themen bis ins Detail erarbeiten und anschließend von sich behaupten „ich bin Expertin in XY“. Dazu ist das Zeitkontingent, das im Studium für ein Sachfach vorgesehen ist, zu gering bemessen.
Frau Übifix hatte aber Blut geleckt und bewarb sich in den Semesterferien auf Ferienjobs. Dabei ging es bei den damaligen Jobangeboten kein einziges Mal um Übersetzertätigkeit – das war ihr recht. Sie wollte Unternehmensabläufe kennenlernen, in die Materie hineinschnuppern und erfahren, wie der Alltag in einer größeren Firma sich darstellt.
Kommissar Zufall wollte, dass sie als Erstes in einem Unternehmen landete, das Hightech-Materialien für verschiedene Branchen herstellte: Hochleistungskunststoffe sowie Additive für Kunststoffe und Kautschuk. Frau Übifix zeigte sich hochinteressiert und durfte an Fachmeetings teilnehmen, die sie protokollieren sollte. Am Anfang verstand sie angesichts des Insiderjargons nicht viel und fühlte sich ziemlich unwohl. Nach getaner Arbeit wälzte sie Fachbücher und -zeitschriften, die sie in der Bereichsbibliothek vorfand, und stellte ihrem Chef unzählige Fragen. Sie arbeitete nach Feierabend die ausgeliehenen Fachbücher durch, denn … Internet gab es damals noch nicht. So konnte sie sich hervorragend in die Materie einarbeiten. Für Frau Übifix war klar: Das ist ein spannendes Thema, mit dem ich mich noch intensiver befassen will.
So verlief ein Semester nach dem anderen, und Frau Übifix jobbte in den Semesterferien in unterschiedlichen Firmen, wo sie sich Fachwissen aneignete und ihre Fühler ganz automatisch nach weiteren Nischengebieten ausstreckte. Übersetzungen machte sie damals in diesen Unternehmen nicht, konnte aber schon auf selbstständiger Basis für eine Agentur Aufträge übernehmen, um ihr Studium zu finanzieren. Auf diese Weise lernte sie auch schnell, dass es besser ist, für Direktkunden Übersetzungen zu fertigen – aber das ist ein anderes Thema.
Der Fuß in der Tür
Nach Abschluss des Studiums bewarb sie sich als Übersetzerin bei vier Unternehmen. Und bekam drei Absagen und eine Einladung zum Einstellungsgespräch. Hurra, dachte sie. Doch der Personalmann teilte ihr mit, dass es keine Planstelle für Übersetzer im Unternehmen gebe, man suche jedoch eine Sprachlehrerin für Führungskräfte, die auf Entsendung nach Frankreich gehen sollten. Was tun? Hatte sie wirklich DAFÜR studiert? Aber es war eine Chance, den Fuß in einen internationalen Konzern zu bekommen, und sie sagte zu. Als Sprachtrainerin arbeitete sie etwas über drei Jahre und lernte so alle Bereiche und Abläufe des Unternehmens kennen – das Beste, was einem passieren kann. Wann immer es passte, lief sie mit ihren Kursteilnehmern durch die Produktion, wo diese ihr alles haarklein in beiden Sprachen erklären mussten – als Übung. Nach Feierabend arbeitete sie in ihrer kleinen Wohnung das Gelernte durch, vertiefte es und vergaß aber auch nicht die Nischenthemen, die sie in ihren Ferienjobs kennen gelernt hatte.
Zwei Jobs – kein Problem
Schon im dritten Jahr ihrer Festanstellung fing Frau Übifix an, nebenberuflich auf selbstständiger Basis Übersetzungsaufträge zu bearbeiten, akquirierte per Telefon Direktkunden (sie hatte ja nichts zu verlieren) und bildete sich kontinuierlich weiter. Das war hart: Nach Feierabend im ersten Job (frühestens gegen 17 Uhr) gönnte sie sich eine freie Stunde, dann ging ihr nebenberufliches Freiberuflerleben los – jahrelang kein freies Wochenende, kein Urlaub, aber immer das Ziel vor Augen: eines Tages die Festanstellung an den Nagel hängen, sich zu 100 % selbstständig machen UND dabei ein sehr gutes Auskommen haben, statt nur zu „überleben“. Mit diesem Ziel im Visier machte es ihr auch nichts aus, ihren gesamten Urlaubsanspruch aus ihrer Festanstellung in eine hochwertige als Präsenzkurs gestaltete Bildungsmaßnahme für Texter und Journalisten zu „verbraten“ – im Gegenteil.
Inzwischen kam das Internet auf, und das Übersetzerleben wurde durch das einfachere Recherchieren etwas leichter. Im Laufe der Jahre ergab sich durch das Übersetzen von Patenten, dass Frau Übifix in bestimmte Nischenthemen rutschte, die sie spannend fand: Nitrosamine in Reifenkomponenten, polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe, Stahlcordwicklungstechniken bei Reifen, flüssigkristalline Schichtpolymere und ihr Verhalten bei der Coextrusion, Seltene Erden und seit wenigen Jahren gesellte sich unter anderem noch das Nischenthema Tropfendynamik hinzu.
Buh! So viel Zeit und Arbeit!
Ich höre die Stimmen mancher Kollegen*: „Ah, das ist aber schwierig und braucht aber viel Zeit!! Und was ist mit Freizeit? Und Urlaub?“ Tja, ich kann mich nur wiederholen: Das Leben ist kein Ponyhof. Oder noch drastischer: Wer mit den großen Hunden pinkeln will, muss das Bein hoch genug heben. Übersetzt heißt das: Erst ordentlich hobeln, dann fallen auch die richtigen Späne. Ohne Einsatz fliegt einem kein 1a-Expertenwissen in einem Nischenfachgebiet zu. Und ja: Auch Frau Übifix hatte familiäre Verpflichtungen und es lief nicht immer alles glatt in ihrem Privatleben. Zur Beruhigung: Frau Übifix hat nichts vermisst und auch ihrer Gesundheit nicht geschadet. Bergarbeiter in der Grube haben/hatten ein schwierigeres Arbeitsleben.
Und wieder einige Kollegenstimmen: „Geld ist nicht alles im Leben“. Klar. Aber es ist durchaus beruhigend zu wissen, dass einem mit zunehmendem Alter nichts passieren kann, was einen in finanzielle Schwierigkeiten bringen könnte, und dass fürs Alter gut vorgesorgt ist. Im Laufe der Jahre konnte sich Frau Übifix immer öfter die feinsten Rosinen aussuchen, musste nicht mehr akquirieren und wurde von Kunden gefragt, ob sie denn diesen oder jenen Text übersetze könne, man richte sich nach ihrer Verfügbarkeit. Besser geht’s nicht.
Und ja, es ist möglich.
Weiterbildung
Selbstverständlich muss auch in einem Nischengebiet kontinuierlich an Weiterbildung gedacht werden. Frau Übifix besuchte immer wieder Vorlesungen als Gasthörerin, arbeitete sich durch neue Veröffentlichungen durch und – ganz wichtig – suchte das Fachgespräch mit Experten im jeweiligen Fach. Ja, manchmal kostet das Geld, aber es lohnt sich sehr.
Fazit
Eine echte Spezialisierung ist der erste Schritt zu gut bezahlten Aufträgen und zur Auftragssicherheit. Ein oder – besser – mehrere Nischenfachgebiete machen Sie als Übersetzer einzigartig. Um so weit zu kommen, sind jedoch Einsatzbereitschaft und -kraft gefordert.
(Foto im Header: tower-2068299_1920 von PIRO auf Pixabay – danke)
(*) Hinweis: Im Sinne einer besseren Lesbarkeit deckt in diesem Beitrag das generische Maskulinum (z. B. der Übersetzer, Freiberufler, Unternehmer) sowohl die weibliche und männliche Form als auch das dritte Geschlecht ab. Dies ist in keinem Fall als Zeichen einer Diskriminierung zu werten.
(**) Um Missverständnisse zu vermeiden, hier vorab: Höhere Wortpreise liegen deutlich über 40 ct., wobei in Nischenfachgebieten meist ein Pauschalpreis für einen Text vereinbart wird.