Das Oberengadin und seine Sprache

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Das Oberengadin und seine Sprache

Wo noch Rumantsch gesprochen wird

Mein allerliebstes Reiseziel ist das Oberengadin im schweizerischen Kanton Graubünden, genauer gesagt: das Hochtal zwischen Zernez und Sils und dort speziell der Landstrich zwischen Madulain und Pontresina. Wir sprechen von einem Hochtal mit einem Talboden auf 1600 bis 1800 m, eingefasst von Bergen, die gut und gerne 3000 m erreichen. Abgesehen von St. Moritz, dem mondänen Treffpunkt für Promis und Superreiche, das in der Zeit um 1900 von englischen Touristen entdeckt und großgemacht worden ist, sind die Orte kleine Bergdörfer mit geringer Einwohnerzahl (unser Ferienort Madulain hat zum Beispiel 200 Einwohner) mit viel Charm.

Warum ich diese Region – vor allem im Winter – liebe? Imposante schneebedeckte Berge, die ein einzigartiges Panorama mit schier endloser Weite bilden und eine traumhafte Ruhe vermitteln; Sonne, Licht und Natur pur mit einem Himmel, dessen Blau wie retuschiert aussieht; freundliche und offene Menschen, eine saubere Landschaft ohne Müll am Wegesrand und ein rundum sicheres Gefühl selbst in einsamen dunklen Gassen (mal vom Wolf abgesehen); eine Vielfalt von Freizeitmöglichkeiten – von Alpin- oder Langlaufskifahren über Wandern, Radfahren und Mountainbiken, Running, Klettern bis hin zu Wassersport auf einem der zahlreichen Seen oder auch Golfen.

Für mich ist dieser Landstrich, in den ich mich bereits vor über dreißig Jahren verliebt habe, ein Ort der Inspiration, wo ich innehalte und die Seele baumeln lasse, ohne an gestern oder morgen zu denken – nur der Augenblick zählt.

Bildnachweis 1) s. unten

Rätoromanisch

Für uns Sprachler(*) interessant ist die Sprachenvielfalt. Die Schweiz hat bekanntermaßen vier offizielle Landessprachen: Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. Deutsch ist die Sprache, die am meisten verbreitet ist und vor allem als Schweizerdeutsch gesprochen wird. In der Westschweiz ist Französisch die offizielle Landessprache, im Tessin und in den südlichen Tälern Graubündens Italienisch, jeweils mit mehr oder weniger großen Abweichungen zum Standardfranzösisch bzw. -italienisch.

Rätoromanisch wird nur von einigen zehntausend Personen – etwa 70.000 – in Graubünden gesprochen, deshalb wird es auch oft Bündnerromanisch oder Rumantsch Grischun genannt. Bündnerromanisch umfasst fünf verschiedene Dialekte: das Sursilvan, das Sutsilvan, das Surmiran, das Putèr (Oberengadinisch) und das Vallader (Unterengadinisch). Mit 91,6 Prozent Ja-Stimmen hatten am 20. Februar 1938 die Schweizer Männer (Frauen durften in der Schweiz damals nicht wählen) das Rätoromanische zur vierten Landessprache erklärt.

„Räto“ kommt von „Raetia“, das ist der Name, den die Römer der Gegend in den Alpen gegeben haben. Als die Römer 15 v. Chr. Rätien unterwarfen, war nicht abzusehen, dass sie damit eine sprachliche Revolution auslösen würden. „Romanisch“ weist natürlich darauf hin, dass die Sprache mit Latein verwandt ist. Straßenschilder und andere Hinweise sind im Oberengadin auf Deutsch und Oberengadinisch ausgeführt – wie oben links beispielsweise zu sehen ist: „Betreten der Eisfläche verboten“ und „Scumandà dad ir sin il glatsch!“.

Rätoromanisch ist nicht ganz einfach – gut, Chinesisch oder Japanisch sicher auch nicht. Insbesondere weicht die Aussprache vom Schriftbild teilweise stark ab und beinhaltet nicht selten einen Zungenbrecher.

Beispiele

Die Silbe „aun“ wird „än“ vor Konsonanten und „äm“ vor Vokalen und am Wortende ausgesprochen. Der Ortsname Silvaplana (Deutsch) wird auf Rätoromanisch „Silvaplauna“ geschrieben und „Silvapläma“ ausgesprochen.

Der Buchstabe g am Wortende wird „tsch“ ausgesprochen. So liest man in Pontresina Hinweisschilder zum Val Roseg, ausgesprochen heißt es „Val Rosetsch“.

Bildnachweis 2) s. unten

Manche Ortsnamen weisen einen Tetragraphen auf, eine Buchstabenkombination, die für eine Lautung stehen, so zum Beispiel S-Chanf [Schtjanf], Cinuos-chel [Tsinúoschtjel] oder La Punt-Chamues-ch [Lapunt-Tjamuéschtj].

Typisch für das Oberengadinische sind die Vokale ü und ö, die in den übrigen Idiomen des Romanischen kaum bis gar nicht vorkommen. Außerdem: Der personenbezogene Akkusativ, also das direkte Objekt, wenn es sich um eine Person handelt, wird durch die Präposition a eingeleitet). Beispiel:
Hast du Peter gesehen? = Hest vis a Peider?

Das Oberengadinische ist eine Schriftsprache mit normierter Grammatik und Rechtschreibung, daher findet es auch als Schulsprache Anwendung. In einigen Gemeinden ist es sogar offizielle Schulsprache.

Deutsch / Schweizerdeutsch Bündnerromanisch
Hallo, Grüezi Allegra
Guten Tag Bun di
Guten Abend Buna saira
Bitte (gern geschehen) Per Plaschair
Danke Grazia fitg [fidsch]
Wie geht’s dir? Cu vo que?
Ich verstehe nicht. Jau na chapesch betg
Auf Wiedersehen A revair
Ich liebe dich. Eau t’am.
Bahnhof la staziun
Hilfe! Agüd!
Entschuldigung! s-chüsa
Haus Chesa
Licht glüsch
Arzt meidi
Achtung Kinder! (Straßenschild) adatg affons
1 enya
2 duss
3 trais
4 kater
5 tschinsch

 

Zum Schluss ein Zungenbrecher für Fortgeschrittene:

Tschuntschientschuncontatschun tschancs tschufs, das bedeutet 555 schmutzige Hammel.

 

(*) Hinweis: Im Sinne einer besseren Lesbarkeit deckt in dieser Veröffentlichung das generische Maskulinum (z. B. der Übersetzer, Freiberufler, Unternehmer) sowohl die weibliche und männliche Form als auch das dritte Geschlecht ab. Dies ist in keinem Fall als Zeichen einer Diskriminierung zu werten.

Bildnachweis:
1) Von Adrian Michael, CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0>, via Wikimedia Commons
2) GCW
3) Terfili, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons
4) Headerfoto: GCW

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