Fachbegriff: juristische Fiktion

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Fachbegriff: juristische Fiktion

Wenn ein Toter als lebendig, ein Lebender als tot behandelt wird.

„Die Rechtswissenschaft ist eine sprachgebundene Wissenschaft. Der Rechtswissenschaftler bedient sich nicht nur selbst der Sprache, um über das Recht nachzudenken und seine Erkenntnisse mit der Gemeinschaft zu teilen. Vielmehr ist auch der Gegenstand der Rechtswissenschaft, das Recht, immer sprachgebunden,“ so Prof. Dr. Andreas Piekenbrock in einem Vortrag aus dem Jahr 2015. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist Sprache – und insbesondere Fachsprache – in der Juristerei für uns SprachwissenschaftlerInnen so wichtig … und spannend.

Im französischen wie auch im deutschen Rechtssystem wird vom Hilfsmittel der „fictio legis“ oder „fictio iuris“, dt. gesetzliche oder juristische Fiktion, frz. fiction juridique, gesprochen, wobei – darauf sei ausdrücklich verwiesen – dieser Begriff nicht dem Konzept der (deutschsprachigen) logischen oder juristischen Sekunde entspricht.

Die gesetzliche Fiktion wird im deutschen Recht als „Anordnung des Gesetzes, tatsächliche oder rechtliche Umstände als gegeben zu behandeln, obwohl sie in Wirklichkeit nicht vorliegen“ (Quelle) definiert.

Beispiele

Klassisches Beispiel einer juristischen Fiktion ist die Regelung der Erbfähigkeit des Nasciturus (1) in § 1923 BGB. Dort heißt es: „Erbe kann nur werden, wer zur Zeit des Erbfalls lebt.“, also nicht derjenige, der schon gestorben oder noch nicht geboren ist. Abweichend hiervon bestimmt dann aber Absatz 2: „Wer zur Zeit des Erbfalls noch nicht lebte, aber bereits gezeugt war, gilt als vor dem Erbfall geboren.“ Hier wird also dem in Wahrheit vorliegenden Sachverhalt (geboren sein) eine Rechtsfolge beigegeben, die einem unwahren Sachverhalt entspricht. So kann dann das noch im Mutterlaib befindliche Kind erben.

(1) Als Nasciturus (lat. „der geboren werden wird“) wird im Recht Deutschlands das bereits gezeugte, aber noch ungeborene Kind bezeichnet.

Ein weiteres Beispiel liegt vor, wenn ein geschäftsunfähiger volljähriger Mensch (z. B. ein geistig behinderter Mensch, der in rechtlicher Hinsicht als geschäftsunfähig erklärt wurde) ein Eis in der Eisdiele kauft oder eine Eintrittskarte für den Zoo oder das Freibad erwirbt. Diese Person kann zwar rechtlich gesehen keinen rechtswirksamen Vertrag abschließen (Haus kaufen/verkaufen, Mietvertrag für eine Wohnung usw.). Für sog. Geschäfte des täglichen Lebens, also Geschäfte, die mit wenig Geld, also geringwertigen Mitteln bewirkt werden können, stellt die Vorschrift die Fiktion auf, der Vertrag (Eis kaufen, Eintrittskarte erwerben) sei wirksam, sobald er von beiden Seiten vollständig erfüllt worden ist. Verankert ist das in § 105a BGB.

Und schließlich ist die juristische Fiktion am flagrantesten bei Adoptionen. Wird die Adoption ausgesprochen, erlischt das Verwandtschaftsverhältnis zu einem oder beiden leiblichen Elternteilen. Die Adoptiveltern werden von diesem Zeitpunkt an als leibliche Eltern angesehen. Entsprechend steht es auch in einer neuen Geburtsurkunde, die dann ausgestellt wird. Da der Rechtsakt am biologischen Verwandtschaftsverhältnis nichts zu ändern vermag, spricht man in diesem Zusammenhang von juristischer Fiktion.

Auch die Rechtspersönlichkeit, die natürlichen Personen (Menschen) und juristischen Personen (Unternehmen, Verbände, Staat usw.) zugeschrieben wird, ist eine juristische Fiktion.

An diesen Beispielen wird deutlich: Die juristische Fiktion hat lediglich regelungstechnischen Charakter.

Entstehung und Abgrenzung

Wie so Vieles im deutschen und französischen Rechtssystem stammt das Konzept der juristischen Fiktion aus dem römischen Recht.

Abzugrenzen ist die juristische Fiktion von der sog. unwiderleglichen gesetzlichen Vermutung (lat. (praesumtio iuris et de iure). Ein Beispiel findet sich in § 1566 Abs. 2 BGB: „Es wird unwiderlegbar vermutet, dass die Ehe gescheitert ist, wenn die Ehegatten seit drei Jahren getrennt leben.“

Von Osterhasen und Weihnachtsmännern

Im Zusammenhang mit der juristischen Fiktion wird oft die Bestimmung einer „Reichsschokoladenverordnung“ aus den 1930er Jahren zitiert, in der angeordnet wurde: „Weihnachtsmänner im Sinne dieser Regelung sind auch Osterhasen.“ Tatsächlich soll es laut Prof. Dr. Andreas Piekenbrock diese Verordnung nie gegeben haben, sodass es auch diese schöne Bestimmung in der Form nie gab (Quelle: Aufsatz). Es gab wohl eine „Verordnung über Kakao und Kakaoerzeugnisse“ im Jahr 1933, darin ist jedoch von Osterhasen und Weihnachtsmännern keine Spur zu finden. Sie regelte lediglich die verschiedenen Arten von Schokolade und ihre Qualität.

Aus anderen Quellen wird ein Gesetz der Besatzungsregierung bzw. des obersten Gerichtshofs der Britischen Zone zitiert, das nach Recherchen von Rechtswissenschaftlern wohl auch weder Osterhasen noch Weihnachtsmänner erwähnt. Daran ist zu erkennen, wie sich so etwas auch in der Fachliteratur über Jahrzehnte hält.

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