Zahlen, Fakten, Erfahrungen und Voraussetzungen für ein langfristiges Bestehen
Manche Berufe sterben aus oder werden nur noch von wertvollen Exoten ausgeübt, andere dürfen sich einer vielversprechenden Zukunft erfreuen. Wie sieht es mit dem Beruf des Übersetzers / der Übersetzerin aus? Was wird sich in den kommenden Jahren verändern? Und vor allem: Was muss der Übersetzer oder die Übersetzerin mitbringen, um langfristig am Markt zu bestehen?
Gleich zu Beginn die gute Nachricht: Der Beruf des Übersetzers (*) wird nicht aussterben. Zumindest nicht in den nächsten 50 bis 100 Jahren. Und was in 100 Jahren kommt, weiß ohnehin niemand und wird niemand, der diese Zeilen liest, erleben. Aber – und da kommt der Wermutstropfen: Die Welt steht nicht still, sodass auch für uns alle, die wir den Übersetzerberuf ausüben, die Herausforderung darin besteht, sich dem Wandel zu stellen und sich entsprechend zu wappnen.
Steigender Übersetzungsbedarf
Allein am Beispiel der EU wird deutlich, wie der Übersetzungsbedarf Jahr für Jahr ansteigt. Während sich Mitte der 1980er Jahre durch die damalige Zahl der EU-Mitgliedstaaten schon 72 Übersetzungsrichtungen ergaben, sind es heute angesichts der 24 Amtssprachen (Stand 2020) einige mehr. Die wachsende Globalisierung der Märkte, die Digitalisierung und die ausgetauschten Informationsmengen sorgen für ein enormes Volumen an zu übersetzenden Texten. Laut DIHK (Deutscher Industrie- und Handelskammertag e. V.) benötigen etwa 90 Prozent der in Deutschland tätigen Unternehmen Übersetzungen – entweder weil sie exportieren, importieren oder beides oder aufgrund anderweitig begründeter Kontakte mit ausländischen Stellen.
Nach Schätzungen des US-Marktforschungsunternehmens Common Sense Advisory (CSA), das seit rund zwanzig Jahren die translation industry beobachtet, soll das Marktvolumen für Sprachdienstleistungen weltweit im Jahr 2021 auf 56 Milliarden US-Dollar anwachsen (Quelle: Pressemitteilung CSA vom 15.06.2018). Das Marktvolumen des deutschen Übersetzungsmarktes wird laut Studien großer Agenturen aktuell auf rund 1,25 Milliarden Euro Jahresumsatz geschätzt. Damit ist in der EU Deutschland mit Abstand der größte Übersetzungsmarkt vor Frankreich mit 627 Millionen Euro, dicht gefolgt von Italien mit 607 und Großbritannien mit 539 Millionen Euro (Quelle: QSD Survey 2020). Außerdem ist von einem weltweiten Wachstum von ca. zehn Prozent jährlich auszugehen. Die Zahlen verheißen also rosige Zeiten für Übersetzer, könnte man bei der bloßen Betrachtung dieser Untersuchungsergebnisse meinen.
Übersetzungsmarkt im Wandel
Parallel zum explodierenden Übersetzungsbedarf wird die Konzentration der Übersetzungsagenturen weiter voranschreiten. Ein überdurchschnittlich großes Stück des weltweiten Kuchens teilen sich allerdings nur wenige (vor allem US-amerikanische) Sprachunternehmen. In Europa ist der deutsche Übersetzungsmarkt einzigartig stark fragmentiert. Marktführer in Deutschland ist die Kern AG mit einem Umsatz von rd. 55 Millionen Euro im Jahr 2019, gefolgt von Apostroph Group/Wieners+Wieners mit 28 Millionen Euro. Einzelheiten können der oben genannten QSD-Studie entnommen werden (nach Eingabe einer Mailadresse erhält man einen Link für den Download).
Abgesehen von den Fällen, in denen dem Übersetzer zum Beispiel nicht digitalisierte Zeugnisse, Urkunden, Ausweise u. Ä. vorgelegt werden, arbeitet der Übersetzer heute selbstverständlich konsequent und umfassend mit Ausgangs- und Zieltexten in elektronischer Form. Sehr viele Kollegen arbeiten zudem mit sog. CAT-Tools (englisch: computer-aided translation oder computer-assisted translation) wie SDL Trados Studio, memoQ, Wordfast Pro, Across usw., die unter anderem das Übersetzen (rein handwerklich) vereinfachen, die Textkongruenz verbessern und die Kosten auf Kundenseite (vor allem bei Agenturen) verringern (sollen). Dabei beträgt der Endpreis für den Kunden, also der Preis, den die Agentur dem Kunden fakturiert, meist das Doppelte des Honorars für den Übersetzer.
Der überwiegende Teil der weltweit anfallenden Übersetzungen wird über Sprachdienstleistungsunternehmen, also Agenturen, abgewickelt. Nicht zuletzt deshalb wird meiner Meinung nach die Nutzung von CAT-Tools und anderen Werkzeugen drastisch zunehmen. Schon heute ist es nur in relativ seltenen Ausnahmefällen möglich, für Agenturen tätig zu sein, wenn man keine CAT-Tools verwendet. Allerdings – dies sei am Rande bemerkt – eignen sich nicht alle zu übersetzenden Texte für die Verwendung dieser Werkzeuge. Deshalb: Ja, es gibt sie, die Übersetzer, die überhaupt keine CAT-Tools nutzen und dennoch so hoch im Kurs stehen, dass Akquise für sie kein Thema ist. Ich bin ein solches seltenes Exemplar. 🙂
Damit einher gehend wird die Bedeutung von Terminologiemanagement – im Idealfall schon im Ausgangstext – stark zunehmen, denn die Vereinheitlichung von (Fach-)Begriffen und Bezeichnungen vor allem in der technischen und wissenschaftlichen Kommunikation erleichtert nicht nur das Verstehen der Texte. Der konsequent kongruente Gebrauch von Fachtermini ist ein entscheidendes Kriterium für die Brauchbarkeit, die Qualität und weitere Verarbeitbarkeit (also auch die Übersetzung) von Fachtexten. Denn: Was in einem Abschnitt eine Kuh ist, kann im nächsten Abschnitt nicht als Ochse und in der Zusammenfassung als Kalb bezeichnet werden.
Auch die Nutzung von Spracherkennungssoftware wie Dragon NaturallySpeaking wird in den kommenden Jahren stark zunehmen. Dass damit einerseits substantielle Produktivitätssteigerungen erzielt und somit Zeit für andere Dinge (weitere Aufträge oder aber Freizeit) gewonnen und andererseits die Gesundheit (Handgelenke, Sehnenscheiden …) geschont werden können, ist leider noch nicht bei allen Übersetzern angekommen. 2016 gab es auf der Plattform ProZ eine nicht repräsentative Blitzumfrage, bei der auf die Frage „Do you use speech recognition software when you translate?“ über 52 % mit „No, and I don’t want to“ antwortete. Für meine Kollegen und mich, die wir den Drachen schon länger nutzen, überhaupt nicht nachvollziehbar (insbesondere der Zusatz „I don’t want to“). Auch in diesem Zusammenhang sei erstens erwähnt, dass sich nicht alle zu übersetzenden Texte für die Verwendung des Drachen eignen(jedoch weit mehr, als es viele Kollegen vermuten), und zweitens ergänzt, dass es diese Software nicht für alle Sprachen gibt. Angesichts der höheren Nachfrage und engeren Deadlines werden Übersetzer, die in den „Dragon-Sprachen“ tätig sind, vielfach nicht umhin können, sich auch mit diesem sehr komfortablen und leistungsfähigen Werkzeug zu befassen.
Steigende Zahl der Absolventen: alle geeignet?
Jedes Jahr, jedes Semester kommen allein in Europa große Zahlen von Absolventen unterschiedlicher Lehrgänge und Studiengänge auf den Markt. Diese Personen haben mehrheitlich vor, sich in der translation industry selbstständig zu machen: weil es ihr Traum ist, weil sie es „schick“ oder „cool“ finden, weil sie ihr eigener Chef sein wollen … oder auch weil sie keine Festanstellung als Übersetzer bekommen und die Selbstständigkeit als Ersatzlösung ansehen (und hin und wieder werden sie von der Agentur für Arbeit darauf hingewiesen). Hinzu kommen etliche Quereinsteiger aus diversen Berufszweigen. Kein Problem, Arbeit ist genug für alle da. Und: Konkurrenz belebt das Geschäft. Aber so einfach ist das nicht.
Ein auffallendes Merkmal des Übersetzungsmarkts ist die außerordentlich große Bandbreite in Bezug auf die Qualität der erbrachten Leistung, einhergehend mit der fachlichen und unternehmerischen Eignung der freiberuflichen Dienstleister, die als „Einzelkämpfer“ unterwegs sind – davon gibt es in Deutschland Tausende. Doch gerade da liegt der Hase im Pfeffer. Selbst der willigste und motivierteste Mensch wird erfolglos bleiben, wenn er nicht die erforderlichen Voraussetzungen als Unternehmer mitbringt. Wen wundert es also, dass viele freiberuflich tätige Übersetzer scheitern oder aber sich ihr Berufsleben lang „abstrampeln“, ohne auf einen grünen Zweig zu kommen. Die wichtigsten Gründe des Scheiterns können hier nachgelesen werden.
In Zukunft wird sich – übrigens nicht nur in unserem Berufszweig – noch stärker ein Aspekt als Erfolgskriterium erweisen: Nur diejenigen, die im Herzen, in der Einstellung und im Verhalten, also durch und durch waschechte Unternehmertypen sind, werden in der Übersetzungsbranche langfristig erfolgreich sein. Wer noch am Anfang steht oder die Entscheidung noch gar nicht getroffen hat, für den steht übrigens in meinem Fachbuch „Das große 1×1 für selbstständige Übersetzer – Nachschlagewerk für die Praxis“ (BDÜ Fachverlag) der Test „Sind Sie der Unternehmertyp?“ bereit, den ich auf der Grundlage eines IHK-Eignungstests speziell für Übersetzer ausgearbeitet habe.
Zum Unternehmertum kommen in Zukunft noch stärker als bisher eine Reihe von Trümpfen hinzu, die maßgebend für das erfolgreiche Bestehen des Übersetzers am Markt sein werden. Dazu zählen beispielsweise die richtige Marktpositionierung, eine geeignete Spezialisierung, die diese Bezeichnung verdient, soziale Kompetenz, Kommunikationsfähigkeit und eine sinnvolle Diversifizierung.
Hierzu im nächsten Beitrag mehr.
(*) Hinweis: Im Sinne einer besseren Lesbarkeit deckt in dieser Veröffentlichung das generische Maskulinum (z. B. der Übersetzer, Freiberufler, Unternehmer) sowohl die weibliche und männliche Form als auch das dritte Geschlecht ab. Dies ist in keinem Fall als Zeichen einer Diskriminierung zu werten.