Von primitiv bis zivilisiert

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Von primitiv bis zivilisiert

Gedanken zum Verhalten und zur Sozialisation

Als ich auf der Suche nach spannenden Themen war, erklärte meine Kollegin Imke Brodersen, Übersetzerin im Bereich Medizin und Wissenschaft, Literatur und Urkunden: „Ich will immer Dinge über Gruppendynamik wissen. Und warum die je nach Sozialisierung so unterschiedlich ausfallen kann. Das Zusammenleben von Menschen insgesamt und die Frage, wann und warum die dünne Schicht des zivilisierten Verhaltens zerbricht“. Hochinteressante Themen, die ganz viele Fragen in einem weiten Spannungsbogen aufwerfen. Mehr Aspekte, als in einem einzigen auch langen Blogbeitrag besprochen werden können. Daher wird in jedem Fall der letzte Teil der Fragestellung (das Zerbrechen des zivilisierten Verhaltens) auf einen anderen Blogpost verschoben.

Übrigens ist Gruppendynamik ein Thema, das ebenfalls separat zu betrachten ist. Hier will ich mich erst einmal mit dem Menschen als Individuum befassen.

Mit diesen Themen, die ich der Einfachheit halber zunächst unter dem Titel Verhaltensforschung zusammenfassen möchte, beschäftige ich mich seit über fünfunddreißig Jahren sowohl beruflich als auch privat, unter anderem im Zuge zahlreicher Qualifizierungsmaßnahmen zur Durchführung von Führungskräftetrainings und -Coachings bei meinem ehemaligen Arbeitgeber in der Industrie. Meine Erkenntnisse, denen Erlerntes und Erprobtes, Erlebtes und Erlittenes, Erarbeitetes und Erkanntes zugrunde liegen, sind ganz sicher nicht erschöpfend. Mein Anspruch besteht auch nicht darin, eine These aufzustellen oder einen mahnenden Zeigefinger zu erheben: Es sind schlicht und einfach Gedanken, die ich gerne mit Interessierten teile.

Der Motor braucht einen Anlasser

Zugegeben, technisch gesehen trifft das nicht auf jeden Motor zu, aber darüber wollen wir in diesem nichttechnischen Kontext großzügig hinwegsehen, zu schön ist doch das Bild, das die Frage veranschaulicht: Was ist der unmittelbare Anlass(er) für ein bestimmtes Verhalten?

Betrachten wir zunächst ein einfaches Beispiel: Ein erwachsener Mensch (A) sagt im Kreis einiger Freunde und Bekannten, der Song „Felicita“ des italienischen Duos Al Bano und Romina Power sei sein Lieblingslied – warum pfeffert dann die Person B (wohlgemerkt: aus dem Bekanntenkreis): „Was für ein schreckliches Lied! Ich wusste nicht, dass du so einen blöden Musikgeschmack hast“? Die einfachste Antwort auf meine Frage wäre: B ist ungehobelt, unhöflich, empathielos. Richtig, aber was drängt B zu einer solchen Reaktion? Es kostet einen nichts, auch wenn einem der genannte Song partout nicht gefällt, zu sagen: „Aha, interessant, das ist nicht so meine Musikrichtung, mein Lieblingssong ist xy“.

Was veranlasst also B zu dieser Reaktion? Hier helfen grundlegende Fragen, derer sich Verhaltensforscher (*) systematisch bedienen, wobei A und B hier fiktive Menschen sind, insofern können wir nur Vermutungen anstellen. In einer echten Analyse, beispielsweise im Coachingespräch mit einem Klienten, sitze ich einem Menschen aus Fleisch und Blut gegenüber, der ein echtes Leben mit einer echten Historie und ganz vielen Erlebnissen in sich und mit sich trägt.

Also erste Frage: Gibt es einen äußeren Anlass für Bs Reaktion? Zum Beispiel:

  • Mag B die Person A (doch) nicht (so sehr)?
  • Hat sich B gerade oder kürzlich über A geärgert?
  • Ist Neid im Spiel (dabei kann es sich auch um eine Kleinigkeit handeln)?
  • Spielen Konkurrenzaspekte eine Rolle (beruflich oder privat)?
  • Will B aus einem bestimmten persönlichen Grund A eine Retourkutsche verpassen?
  • Ist B an diesem Tag eine Laus über die Leber gelaufen, sodass er seinen Unmut gerade da zum Ausdruck bringt, um sich einfach nur Luft zu machen?
  • usw.

Auch wenn ein äußerer Anlass(er) schnell gefunden wird, besagt das nicht, dass nicht „noch mehr im Busch liegt“. Daher ist bei der Analyse der nächste Schritt in Angriff zu nehmen: die Suche nach dem Nutzen. Was hat B davon, A vor den Kopf zu stoßen? Hier spielen meist verborgene, unbewusste Wünsche und selten Kalkül eine Rolle: Aufmerksamkeit im Kreis der Anwesenden (oder Leser in den social media) auf sich lenken, sich interessant machen, bei anderen punkten, den Schlauen, Abgebrühten, Modernen usw. markieren und möglichst viele der anderen Personen in der Diskussion in sein Lager ziehen. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als der Ich-Wunsch, beliebt zu sein.

Würde man wie Nikolaas Tinbergen, einer der Gründerväter der modernen Verhaltensbiologie, vorgehen, müsste noch hinterfragt werden, wie sich die Verhaltensweise im Laufe des Lebens des Individuums entwickelt hat. Doch darauf können wir in unserem fingierten Beispiel ebenso wenig antworten wie auf die Frage, wie die fragliche Verhaltensweise – wenn sie ein Muster darstellt – grundsätzlich entstanden ist.

Komplex und kaum berechenbar

Tatsache und eine Binsenweisheit ist, dass sich Verhaltensweisen durch eine hohe Komplexität und Unberechenbarkeit auszeichnen. Auf ein und dieselbe „Aktion“ (gemeint ist der Anlass[-er]) gibt es so viele unterschiedliche „Re-Aktionen“ wie Menschen. Beispiel: Auf die in einem Fachforum gestellte Frage nach einem Fachterminus erleben wir die ganze Bandbreite an Reaktionen: von „hast du schon gegoogelt?“ (als ob man als Experte darauf hingewiesen werden muss, dass es diese Möglichkeit gibt) über einen Link, der lediglich zu Wikipedia und allgemeinen Aussagen führt, bis hin zu fundierten Recherche-Ergebnissen und Erklärungen, die eine echte Lösung für das Problem bieten, ist alles dabei.

Warum ist das so? Sind die einen missgünstige „Schlauberger“, die den Fragenden bewusst vor den Kopf stoßen, oder Menschen, die einfach nur dumm, unüberlegt handeln? Und leiden die anderen an einem gehörigen Helfersyndrom oder wollen sie beweisen, dass sie gut recherchieren können? Allein diese Vermutungen, ja, Unterstellungen sind bereits EIN Problem im Problem. Verstehen Sie, was ich meine? Fest steht, dass der Kommentar „hast du schon gegoogelt?“ völlig überflüssig ist und man ihn sich lieber verkneifen sollte.

Unterschiede in der Sozialisation

Ganz wichtig ist, sich im Klaren darüber zu sein, dass Sozialisation und Erziehung in keinem Fall ein und dasselbe sind. Während Sozialisation indirekt Einfluss nimmt, erfolgt dieser bei der Erziehung direkt. Am einfachsten kann das für einen Hund erklärt werden: Die Sozialisation eines Hundes erfolgt durch Kontakte mit anderen Hunden, im Idealfall gleich ab der zehnten Lebenswoche in einer Welpengruppe, und auch mit anderen Zweibeinern als die seiner Adoptionsfamilie, gepaart mit der Wahrnehmung der Umwelt (Fahrradfahrer, Jogger, schreiende Kinder, Müllabfuhr, Autoverkehr usw.), während bei der Erziehung dem Hund beigebracht wird, was er darf und nicht darf, Kommandos wie Sitz, Platz usw. und meinetwegen auch ein paar „überflüssige“ Dinge bei lernwilligen und aktiven Hunden wie Pfote geben, sich auf der Stelle drehen, einem stehenden Menschen in die Arme springen, Spielzeug beim Namen kennen usw., wenn er Spaß daran hat.

Auf das Kind übertragen: Die Eltern oder Bezugspersonen bringen dem Kind im Idealfall bei, wie es sich im Alltag, bei Tisch, beim Essen, im Kontakt mit anderen Kindern und mit Erwachsenen (das berühmte „Zauberwort“ zum Beispiel) usw. zu benehmen hat. Doch genau da hapert es schon, denn wie Mathias Claudius sagte: „Was einer nicht hat, kann er nicht geben“. Das bedeutet: Haben die Erziehungsberechtigten selbst keine „Manieren“, pflegen sie selbst keinen respektvollen Umgang mit anderen, können sie dies auch nicht ihrem Nachwuchs beibringen.

Dass auch bei (utopischer) absolut identischer Sozialisation zwei Menschen identisch „gute“ und „schlechte“ Reaktionen auf eine Aktion (den Anlass[er]) aufweisen, ist völlig unrealistisch. Wenn das so wäre, müssten Geschwister, die die gleiche Sozialisation UND Erziehung genossen haben, identisch oder zumindest sehr ähnlich reagieren. Dies ist jedoch in aller Regel nicht der Fall. Warum? Weil, so die Hirnforschung, zu allererst, schon wenn das Menschenkind im Bauch seiner Mutter ist, das Wesen entsteht oder, besser gesagt, bereits entstanden ist: Stichwort genetisches Erbe. Hirn- und Verhaltensforscher haben zusammen mit Neurobiologen entdeckt, dass der Einfluss der Gene ein weitaus größerer ist als lange vermutet. So soll etwa die Hälfte der Persönlichkeitsmerkmale offenbar von den Eltern an ihre Kinder vererbt werden. Die sogenannte Gendisposition ist das eine; auf der anderen Seite werden Charakterzüge und Persönlichkeitsmerkmale selbstverständlich durch Erziehung und Sozialisation geprägt und entwickelt oder auch „wegerzogen“. Doch letzten Endes bricht die ureigene Persönlichkeit immer, wenn auch mehr oder weniger stark, durch. Man ist gestrickt, wie man gestrickt ist.

In diesem Zusammenhang taucht in Diskussionen oder Fachbeiträgen oft die Frage auf, ob ein Mensch als Mörder geboren wird? Darüber möchte ich mich hier nicht auslassen, das führt zu weit. Vor dem Hintergrund schlimmer Vorfälle wie zum Beispiel Amokläufe oder krimineller Handlungen fragen sich bestimmt viele Menschen, wie es dazu kommen konnte, waren sie doch mit dem Täter jahrelang zusammen in der Schule, haben sie doch ihre Kindheit und Jugend zusammen verbracht oder lebten sie Tür an Tür, ohne zu ahnen, was einmal geschehen würde. Auch hier kann keine Pauschalantwort gegeben werden und ist eine individuelle Analyse jedes Einzelfalls angebracht. Und auch hier dürfte klar sein, dass es in jedem Einzelfall keine simple Erklärung und keine Einzelursache gibt – allerdings immer einen unmittelbaren Auslöser: Das ist unser oben erwähnte Anlass(er).

Biochemische Prozesse

Längst hat die Hirnforschung herausgefunden, dass bestimmte biochemische Botenstoffe im Gehirn den Menschen beeinflussen. Neurobiologen wissen heute, dass sich der Hirnstoffwechsel von Mensch zu Mensch durchaus ein wenig unterscheidet, was für die Ausprägung verschiedener Charaktermerkmale verantwortlich sein könnte. Da ist zum Beispiel das Hormon Kortisol. Die Höhe des Kortisolspiegels hat einen entscheidenden Einfluss darauf, wie wir mit körperlicher Belastung, psychischem Druck oder Stress umgehen (können). Das Oxytocin, oft als „Kuschelhormon“ bezeichnet, ist verantwortlich dafür, dass sich ein Mensch in der Nähe anderer wohlfühlt. Wer viel davon im Blut hat, ist empfindsamer gegenüber Mitmenschen und zeigt sich verträglicher und vertrauensvoller. Der Stoff Dopamin wiederum ist bei extrovertierten Menschen stärker vorhanden.

Jürgen Habermas und Niklas Luhmann, beide Vertreter der neueren Sozialphilosophie, begreifen dagegen den Menschen im Wesentlichen als sozial-kommunikatives Wesen. Sie sehen den Ursprung von Merkmalen sozialen Verhaltens wie Kommunikation, Sinn für Gerechtigkeit, Kooperationsbereitschaft, Moralität usw. nicht in der biologisch-neurobiologischen Ausstattung des Menschen, sondern im Wesentlichen als Ergebnis der einflussnehmen Umgebung.

Übrigens – und das ist sicher für niemanden eine Überraschung – kann starker Stress der Mutter während der Schwangerschaft die Wirkung und Ausprägung von Genen und Botenstoffen für das ganze Leben des Ungeborenen verändern.

Chance auf Veränderung

Sind wir also hinsichtlich unserer Verhaltensweisen auf Gedeih und Verderb von unseren Genen, unseren Botenstoffen, unserer Erziehung (auf die wir ja zumindest in den ersten Jahren keinen Einfluss haben) und von unserer Sozialisation abhängig? Klare Antwort: Nein. Denn noch besteht die Chance, dass der Mensch, der im Zuge der Erziehung „zu wenig“ in seinen Rucksack gelegt bekommt oder bekommen hat, durch intelligentes Selbstlernen einige Mängel beseitigen kann – selbst wenn er aus dem Kindesalter herausgewachsen ist. Am einfachsten sollte das mit Tischmanieren klappen, denn da genügt das berühmte „Beobachten und Nachahmen“. Schwieriger wird es bei Soft Skills, über die ich mehrfach ausführlich geschrieben habe. Denn: Sich die nötigen Soft Skills anzueignen, das ist harte Arbeit, wenn einem das nicht in die Wiege gelegt bzw. durch elterliche Erziehung beigebracht worden ist.

Jeder Mensch hat die Möglichkeit oder die Gabe, sein Wesen bis ins hohe Alter zu verändern. Dazu bedarf es mindestens einer Prise Selbsterkenntnis (Der auf sich bezogene Aha-Effekt), eines größeren Quäntchens Beobachtungsgabe (Wie wirke ich auf andere? Wie nehmen mich andere wahr?), einer guten Portion Auffassungsgabe (Ah, wenn ich mich so oder so verhalte, ecke ich weniger an, was weniger Stress für mich bedeutet) und eines großen Schöpflöffels Bereitschaft.

Das Verändern des eigenen Wesens, der einen oder anderen eigenen Charaktereigenschaft bedeutet allerdings harte Arbeit, Arbeit an sich selbst und Beharrlichkeit, denen der echte Wille zur Veränderung zugrunde liegt. Und es ist ein langer, allmählich stattfindender Prozess, der lediglich kleine, subtile Veränderungsschritte mit sich bringt. Der Weg ist mühsam, denn oft verfällt man in sein altes Verhaltensmuster.

Auch wenn, wie weiter oben gesehen, grundlegende Eigenschaften bereits im Mutterbauch festgelegt werden und neurochemische Substanzen stets mit im Boot sitzen, wenn wir uns verhalten, so geht es letzten Endes bei unserer ursprünglichen Fragestellung um eines: Werte. Werte bestimmen und entscheiden über das, was den Menschen antreibt, freut und zufrieden stellt. Werte sorgen für unsere Haltung und Einstellung und sind gleichermaßen Grundlage, Richtschnur und Maßstab dessen, wonach wir handeln, wofür wir einstehen und was wir mit unseren Vorstellungen und Grundsätzen nicht vereinbaren können. Wir Erwachsenen haben es in der Hand, unsere Gendispositionen, unsere vorgeburtlichen (Stress der werdenden Mutter; Musik hören im Mutterleib …) und früh-nachgeburtlichen Einflüsse (Wahrnehmen und Mögen oder Nichtmögen von Gerüchen …) sowie die Einflüsse aus unserer Kindheit und Jugend durch eigene, ganz persönliche Erfahrungen zu begreifen und darauf im Zuge bewusster Verstehensprozesse zu einem Wertekonzept werden zu lassen. Mit anderen Worten: Wir haben die Möglichkeit, bewusst zu handeln, bewusst zu re-agieren und uns bewusst für diese oder jene Werte zu entscheiden. Noch prägnanter formuliert: Wir können uns entscheiden, ob wir uns wie ein ungehobelter Primitivling oder wie ein zivilisierter Zeitgenosse verhalten.

Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen. Nicht verhalten geht nicht, wir verhalten uns immer, auch wenn wir nichts tun und nichts sagen. Schweigen ist auch Verhalten.

(*) Hinweis: Im Sinne einer besseren Lesbarkeit deckt in dieser Veröffentlichung das generische Maskulinum (z. B. der Forscher, der Biologe) sowohl die weibliche und männliche Form als auch das dritte Geschlecht ab. Dies ist in keinem Fall als Zeichen einer Diskriminierung zu werten.

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