Hören neu erlernen, verbessern
„We are losing our listening“ (wir verlernen das Zuhören), sagt der weltbekannte Sound-Experte Julian Treasure in seinen Vorträgen. Wieso? Was geht da vor sich? Wir haben doch zwei Ohren, die uns das Hören ermöglichen. Ja. Aber hören – richtig und gut hören – wird zunehmend schwieriger.
Permanente Geräuschkulisse
Lärm gab es zu allen Zeiten. Doch mit der Zeit haben sich die Lärmquellen im Zuge der Industrialisierung und der späteren hohen Technisierung und privaten Nutzung der unterschiedlichsten technischen Erfindungen vervielfacht. Heute kann sich kaum jemand der Belastung durch Lärm entziehen. Morgens springt der Radiowecker an. Musik und Nachrichten prasseln auf uns ein. In der Küche gesellen sich noch Kaffeemaschine, Wasserkocher und Mikrowelle hinzu. Auf dem Weg zur Arbeit läuft das Autoradio. Bus-, Zug- und Radfahrer haben nicht selten einen Knopf im Ohr, der dafür sorgt, dass das Gedudel weiterläuft. Am Arbeitsplatz geht es gleich weiter: Telefon, Drucker, Maschinen, Geräte, Gespräche im Nebenraum usw. Selbst beim Sport, zum Beispiel im Fitnessstudio und sogar beim Joggen, lassen wir uns dank inzwischen übergroßer mickymausählicher Kopfhörer kontinuierlich berieseln.
Auch von außen kommen belastende Geräusche: Autos hupen, rattern über Kopfsteinpflaster, Flugzeugtriebwerke dröhnen am Himmel, ein fleißiger Handwerker betätigt irgendwo eine Bohrmaschine, der Nachbar setzt ebenso emsig erst den Rasenmäher, dann die Heckenschere, den Häcksler und schließlich den Laubsauger ein. Selbstredend läuft auch beim Einkaufen im Supermarkt ständig Musik im Hintergrund, immer wieder durch Werbeansagen unterbrochen. Unser Gehör ist also permanent einer mehr oder weniger ausgeprägten Geräuschkulisse ausgesetzt.
Empfindliches Gehör
Mit dem Ohr nehmen wir nicht nur Töne und Geräusche wahr: Das Innenohr beinhaltet auch das Gleichgewichtsorgan. Und so funktioniert’s: Mit dem Außenohr wird der Schall eingefangen. Die Schallwellen werden im komplexen Mittelohrsystem so „übersetzt“, dass sie von der dritten Station, dem Innenohr, ausgewertet werden können. Die darin befindliche Gehörschnecke verarbeitet den dort ankommenden Schall in Nervenimpulse um.
Vereinfacht dargestellt, funktioniert das über feine und in eine Flüssigkeit gebettete Haarzellen, die durch akustischen Einfluss in Bewegung gebracht werden. Das menschliche Ohr kann Lautstärken von 10 bis 140 Dezibel wahrnehmen. Sehr hohe Lautstärken sind gefährlich, weil sie – über längere Zeit – Hörschäden hervorrufen. Übrigens ist auch das ständige – wenn auch kaum wahrnehmbare – Rauschen beim Einsatz von Spracherkennungsprogrammen nicht unumstritten. Ein hochwertiges Headset ist das Mindeste, was man seinen Ohren gönnen sollte.
Vielfache Auswirkungen
Oftmals ist sich der Mensch heute gar nicht bewusst, was da auf seine Ohren einwirkt und vor allem, wie sich das langfristig auswirkt. Denn nicht nur das Gehör nimmt Schaden: Die Belastungen durch die kontinuierliche Geräuschkulisse führen auch zu anderen Gesundheitsproblemen, unter anderem zu Konzentrationsstörungen und Nervosität – und zwar in einem schleichenden Prozess. Über 80 % der Menschen in Deutschland sind in irgendeiner Form von Lärmbelästigung betroffen, so das Bundesgesundheitsministerium in seiner jüngsten Studie, und bereits jeder fünfte Jugendliche unter 20 Jahren leidet – oft, ohne sich dessen noch richtig bewusst zu sein – an irreparablen Gehörschäden.
Und nicht nur das: Nicht selten sind Missverständnisse oder Konflikte schlichtweg darauf zurückzuführen, dass wir nicht genau zugehört haben. Noch während der andere spricht, ziehen wir voreilig unsere Schlüsse und sind gedanklich schon gar nicht mehr bei der Sache. Ergebnis: Wir reden aneinander vorbei.
Stille wiederentdecken
Kaum jemand kann sich den vielfachen Einwirkungen auf den Hörnerv entziehen. Wirklich nicht? Schon vor vielen Jahrhunderten wurden Klöster und andere Rückzugsmöglichkeiten errichtet, wo der ruhebedürftige Mensch dem Krach aus der Umwelt und sonstigen Einflüssen von außen den Rücken kehren konnte.
Üben Sie einmal Stille. Es muss ja nicht gleich im Kloster sein. Genießen Sie bewusst zehn Minuten absolute Stille am Tag, idealerweise jeden Tag zur selben Zeit. Schauen Sie dabei zum Beispiel auf ein Bild oder einfach in den Himmel. Sie werden erstaunt feststellen, wie gut das tut und wie empfänglich Sie für neue Hörimpulse werden.
Richtig filtern
Um das (Zu-)hören neu zu erlernen, versuchen Sie erst einmal, festzustellen, wie viele Geräuschquellen Sie „entschlüsseln“ können. Im zweiten Schritt fokussieren Sie sich auf den Impuls, der Ihnen in der momentanen Situation am wichtigsten ist: die Musik aus dem Radio, das Summen der Bürolampe, das Stimmenwirrwarr aus der Nachbarswohnung, der Verkehrslärm unten auf der Straße oder – vermutlich – das Zwitschern der Vögel im Garten.
Das bewusste Filtern ist nichts anderes als ein „Wegschalten“ von störenden Einflüssen. Indem Sie das tun, lernen Sie, (Hör-)Prioritäten neu zu setzen. Schalten Sie alle anderen „unwichtigen“, also nebensächlichen Geräuschquellen so weit wie möglich ab. Mit der Zeit lernen Sie, Geräusche praktisch auf Ihr eigenes Kommando auszuschalten und so Gehör und Gehirn zu entlasten. Simultandolmetscher (*) beherrschen das übrigens besonders gut – und gerade für sie (und natürlich nicht für sie) ist gutes Hören besonders wichtig.
Aktiv zuhören
Anschließend legen Sie in Ihrem Kopf ganz bewusst den Schalter auf „aktives Zuhören“ um und konzentrieren sich darauf. So können Sie einem Vortrag oder einem Gespräch viel effizienter folgen.
Wer besser zuhört und sich aktiv auf sein Gegenüber einstellt, der nimmt das Gesagte auf – was nicht bedeutet, dass man mit den Inhalten immer einverstanden sein muss. Aber man kann zielführend darauf eingehen. Das fällt dem Gesprächspartner ganz sicher auf und kommt bei ihm besser an. Ach ja: Ihr Smartphone sollte dabei besser in der Hosen- bzw. Handtasche bleiben. 😉
(*) Im Hinblick auf eine bessere Lesbarkeit wird das generische Maskulinum verwendet.
Meine Empfehlung
Kurzvorträge von Julian Treasure, vielfach auf YouTube zu finden (in englischer Sprache)
Liebe Giselle,
das war einmal wieder ein sehr gelungener Beitrag!
Danke dir für deine kreativen Blogs – ich freue mich jedes Mal aufs Neue aufs Lesen.
LG aus Kiel
Marianne
Das freut mich sehr, Marianne. Liebe Grüße aus Karlsruhe.