Fundstücke aus der Lesekiste: Heute: das Lipogramm.
Wissen Sie, was ein Lipogramm ist? Nein, das hat nichts mit Fett oder Fettanalyse zu tun. Ein Lipogramm, auch Leipogramm, ist ein sprachspielerisch erdachter Text, in dem die Verwendung eines bestimmten Buchstabens konsequent vermieden wird. Der Begriff Lipogramm kommt aus dem Griechischen λείπειν (leipein) für weglassen und γράμμα (gramma) für Buchstabe.
Irgendetwas zu schreiben und einen ausgewählten Buchstaben wegzulassen, also quasi ihn nicht zu schreiben, die Wörter aber sonst doch verwenden, kann jeder und ist wenig interessant. Die Kunst besteht darin, einen Satz oder Text zu verfassen, in dem der gewählte Buchstabe durchgängig erst gar nicht vorkommt. Allein die Artikel und deren Deklination sowie die Endung der Verben im Infinitiv bereiten schon ein Problem, will man zum Beispiel auf den Buchstaben e im Deutschen verzichten. Einfach? Probieren Sie es doch mal.
Lipogramme gibt es in der Literatur schon seit der Antike. Eines der bedeutendsten Werke aus jüngerer Zeit ist die 1939 veröffentlichte Novelle Gadsby des amerikanischen Schriftstellers Ernest Vincent Wright, in der er vollständig auf den Buchstaben e verzichtete.
Georges Perec: La Disparition
1969 wettete der französische Schriftsteller Georges Perec mit einem Freund, dass er einen Roman ohne ein einziges e schreiben könne. Das ist ihm auch bravourös gelungen: In La Disparition kommt kein einziges Mal der Buchstabe e vor. Ganze dreihundert Seiten lang. Hier ein kleiner Auszug aus der Originalfassung:
« Anton Voyl n’arrivait pas à dormir. Il alluma. Son Jaz marquait minuit vingt. Il poussa un profond soupir, s’assit dans son lit, s’appuyant sur son polochon. Il prit un roman, il l’ouvrit, il lut; mais il n’y saisissait qu’un imbroglio confus, il butait à tout instant sur un mot dont il ignorait la signification. »
Gut, jetzt sind Sie etwas perplex. Ich auch. Aber – und hier spreche ich insbesondere meine Kolleginnen und Kollegen aus dem Bereich der literarischen Übersetzung an – wie kann man so ein umfangreiches Lipogramm übersetzen? In beiden Sprachen, Deutsch und Französisch, sowie übrigens auch in der englischen Sprache ist das e der häufigste Buchstabe. Dem Übersetzer Eugen Helmlé ist die Herausforderung meisterhaft gelungen. Die 1986 unter dem Titel Anton Voyls Fortgang im Verlag Zweitausendeins erschienene deutsche Fassung ist faszinierend. Hier die Übersetzung des ersten oben aufgeführten Abschnitts:
„Anton Voyl hat Schlaf nötig, doch Anton kommt nicht zum Schlaf und macht Licht. Auf Antons Uhr ist Null Uhr zwanzig. Anton ächzt laut, wälzt sich mal so rum und mal so rum – Antons Schlafcouch ist hart – stützt sich dann auf, griff sich’n Roman, schlug ihn auf und las; doch lang ging das nicht gut, da Anton vom Inhalt nichts, absolut nichts schnallt und ständig auf ‘n Wort stößt, wovon ihm Sinn und Signifikation total unklar ist.“
Zugegeben: Poetisch-harmonisch klingt das im Deutschen nicht. In der französischen Originalversion ist da schon etwas mehr Sprachfluss und Poesie gegeben. Aber sowohl dort als auch da fordert der an klangvollen Wendungen sparende Text den Leser und die Leserin heraus – eine Herausforderung, derer man sich nur scheibchenweise nähern kann. Übersetzer Eugen Helmlé spricht in einem lesenswerten Nachwort zu seiner Übersetzung davon, wie „das ursprüngliche Sprachkorsett des Autors zur Zwangsjacke des Übersetzers mutiert“ und ergänzt: „Der Entschluß (sic), bei der Herstellung eines Textes auf einen oder gar mehrere Buchstaben des Alphabets zu verzichten, führt zu Zwängen, die das Schreiben zwar erschweren, es paradoxerweise aber auch erleichtern können. Zu den Zwängen, die das Schreiben erschweren, gehört zum Beispiel, daß bestimmte Dinge nicht mehr gesagt, bestimmte Sachverhalte nicht mehr beschrieben, bestimmte Gegenstände nicht mehr benannt werden können. Der Autor ist gezwungen, seine beschränkten Mittel so ökonomisch wie nur irgend möglich einzusetzen, …“ und weiter: „Doch dieses Sprachkorsett, das ein Auswuchern in mehrere Richtungen nicht mehr zuläßt, bedeutet nicht nur Einengung, sondern gibt auch Halt, wird zur Stütze.“
Noch ein Auszug, weil’s so schön ist:
« Il tapota d’un doigt un air martial sur l’oblong châssis du vasistas.
Il ouvrit son frigo mural, il prit du lait froid, il but un grand bol. Il s’apaisait. Il s’assit sur son cosy, il prit un journal qu’il parcourut d’un air distrait. Il alluma un cigarillo qu’il fuma jusqu’au bout quoiqu’il trouvât son parfum irritant. Il toussa. »
Deutsche Übersetzung von Eugen Helmlé:
„Anton schlug nun fünffingrig, wohl aus Wut, aufm quadratisch Wandloch mit Glas ’n Takt zur Musik, wo in ihm war.
Dann ging Anton zum Kühlschrank, macht ihn auf, nahm Milch raus, schön kalt, trank langsam, Scluck um Schluck. Danach war Anton ruhig. Bald darauf saß Anton aufm Sofa und las flüchtig das Mittagsblatt vom Tag zuvor, raucht dann ’n Zigarillo bis zum Mundstück, das gar nicht dran war, obwohl ihm das Parfüm vom Zigarillo nicht paßt. Darauf kotzt sich Anton aus.“
Was mir hier auffällt und natürlich noch viel häufiger beim Lesen und Vergleichen beider Romane in Gänze aufgefallen ist: Während die französische Originalfassung schon allein durch die Verwendung von passé simple ein wenig „edel“ und „hochfranzösisch“ klingt, kommt die deutsche Fassung unter anderem durch die zahlreichen Kontraktionen und Klitika, ob Proklitika oder Enklitika, doch sehr umgangssprachlich daher. Außerdem wird so mancher Halbsatz hinzugedichtet, den es im französischen Original nicht ansatzweise gibt. Diese Vorgehensweise kann ich mir in keinem der Fälle erklären (Beispiel oben: unterstrichene Passage im Deutschen, die im Französischen völlig fehlt).
Für die Anglophonen unter Ihnen hier diese Passage in der englischen Fassung:
„Hand-tapping a military march on his thighs, Vowl now walks into his pantry, finds a carton of cold milk, pours it out into a bowl and drinks it down to its last drop. Mmmm . . . how scrumptious is milk at midnight. Now for a cosy armchair, a Figaro to look at and a good Havana cigar, notwithstanding that its rich and smoky flavour is bound to sit oddly in his mouth with that of milk.“
Die ungekürzte englische Fassung kann übrigens hier kostenlos heruntergeladen werden.
Übersetzer Eugen Helmlé war offensichtlich so angetan vom lipogrammatischen Ansatz, dass er selbst zwei Romane schrieb, in denen er jeweils auf die Buchstaben e und r verzichtete.
Weitere Übersetzungen
Georges Perecs lipogrammatischer Roman ist übrigens in weiteren Sprachen erschienen, und jedem der unten genannten Übersetzer drücke ich hier meine Hochachtung aus:
- Englisch: Gilbert Adair, A Void
- Italienisch: Piero Falchetta, La scomparsa
- Spanisch: in Teamarbeit mit (Marisol Arbués, Mercé Burrel, Marc Parayre, Hermes Salceda, Regina Vega, El secuestro (*)
- Katalanisch: Adrià Pujol Cruells, L’eclipsi (*)
- Türkisch: Cemal Yardımcı, Kayboluş
- Schwedisch: Sture Pyk, Försvinna
- Russisch: Valery Kislov, Исчезание [Ischezanie] (Lipogramm mit Verzicht auf o)
- Niederländisch: Guido van de Weil, ’t Manco
- Rumänisch: Serban Foarta, Dispariția
- Japanisch: Shuichiro Shiotsuka, 煙滅 [En-metsu] (Lipogramm mit Verzicht auf i)
(*) In der spanischen und der katalanischen Fassung bezieht sich das Lipogramm auf den Buchstaben a, der in diesen beiden Sprachen am häufigsten vorkommt.
Übrigens: In seinem Roman Les Revenentes kehrte Perec, der als der französische James Joyce bezeichnet wird, das Lipogrammprinzip um und schrieb den kompletten Text mit E als einzigem Vokal. Das zeigt schon der Titel, denn eigentlich müsste es Revenantes heißen.
(Beitragsbild oben: La tribune juive, merci)