Übersetzer und Dolmetscher – die vergessene Berufsgruppe.
Sehr geehrte Damen und Herren,
Sie erwähnen täglich Beispiele für Unternehmen, die durch die coronabedingten Beschränkungen und den Einbruch der Wirtschaftstätigkeit betroffen sind. Abgesehen von Konzernen beispielsweise der Automobilindustrie werden alle möglichen Kleinst- und Kleinunternehmer:innen genannt – vom Frisör über den Schuster und Änderungsschneider bis zum Floristen oder den Inhaber einer kleinen Modeboutique. Es ist selbstverständlich bitter für die junge Frau, die sich im Januar 2020 gerade mit ihrem kleinen netten Geschenkeladen selbstständig gemacht hatte; für eine andere junge Frau, die sich gerade den Traum eines kleinen Cafés erfüllt hat, in dem die von ihrer Omi liebevoll gebackenen Kuchen kredenzt werden; ja, auch für den Kleinkünstler, der am Wochenende auf Hochzeiten und anderen Familienfeiern Musik macht, und die Malerin, die im SWR-Bericht von teuren Leinwänden und Farbtuben erzählt und das Ausbleiben von Vernissagen und geschlossene Galerien bedauert. Hundeschulen haben ebenso unter den Maßnahmen zu leiden wie Kosmetik- oder Tatoostudios, italienische Eisdielen, die kleine Kneipe an der Ecke oder die Sherpas am Mount Everest, für die die diesjährige Saison wegen der Corona-Krise ausfällt. Keine Frage: Sie alle und noch viele andere, die mit viel Herzblut „ihren Laden schmeißen“, trifft die aktuelle Krise hart.
Aber kein Politiker, der sich über die aktuelle Lage, über Soforthilfen und besondere Härtefälle äußert, kein Fernsehsender, der über bedrohte Existenzen berichtet und Einzelfälle zu Wort kommen lässt, hat bisher die Gruppe der selbstständigen Übersetzer:innen und Dolmetscher:innen auch nur ansatzweise erwähnt. Dabei trifft es sie mindestens genau so hart: Kaum zogen die ersten schwarzen Wolken einer „möglichen“ Pandemie auf, haben Konzerne wie auch KMU ihre Geschäftstätigkeit stark gedrosselt, sodass der ansonsten umfangreiche Übersetzungsbedarf von Industrie- und Handelsunternehmen von heute auf morgen wegbrach. Die Unsicherheit ob der weiteren Entwicklung der Pandemie veranlasst(e) die potenziellen Auftraggeber von Übersetzungsleistungen zu erhöhter Vorsicht und strengster Zurückhaltung – aus deren Sicht verständlich. Anders als Literaturübersetzer:innen sind Übersetzer:innen und Dolmetscher:innen, die für Industrie und Handel arbeiten, abhängig vom Tagesgeschäft. Der Buchmarkt funktioniert nach anderen Parametern, daher ist auch die Situation der Literaturübersetzer:innen eine andere. Tatsächlich sind diese nämlich durchaus davon abhängig, wie viel Gewinn die Verlage mit den Büchern erzielen, aber die Auftragsvorlaufzeiten sind länger, Projekte dauern länger, der Rhythmus ist durch die beiden Buchmessen vorgegeben.
Selbstständige Dolmetscher:innen sind dadurch dramatisch betroffen: Quasi über Nacht sind Veranstaltungen jeglicher Art, Messen, Meetings und Ähnliches abgesagt worden, die hierfür im Vorfeld gebuchten Dolmetschaufträge ebenso schnell storniert. Eine Entschädigung ist in den allerwenigsten Fällen gezahlt worden. Bundesweit haben auch viele Gerichte ihre Aktivitäten stark eingeschränkt, ebenso notarielle Vorgänge, außergerichtliche Einigungen, Anhörungen u. dgl. Die Folge: Gerichtsdolmetscher:innen – allesamt Solounternehmer:innen – bleiben vielfach auf der Strecke. Es gäbe noch viele Beispiele, in denen selbstständige Übersetzer:innen und Dolmetscher:innen in sogenannten „normalen“ Zeiten zum Einsatz kommen. Aufgrund der Corona-Pandemie stehen sie nun vor leeren Auftragsbüchern. Es sind nicht selten alleinerziehende Elternteile, Familienernährer:innen oder Alleinstehende, die ihre Aufträge dringend brauchen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, ihre Miete, Strom- und Heizungskosten usw. zu bezahlen und ihre Sozialversicherungsbeiträge zu entrichten. Sie geben bei jedem Auftrag und in jedem Einsatz alles, was sie im Gepäck haben: ihr Fachwissen und ihre Erfahrung, aber auch ihr Herzblut – mit dem gleichen Engagement wie die Café-Inhaberin und der Betreiber des Frisörsalons um die Ecke.
Ist Ihnen bewusst, dass Übersetzer:innen und Dolmetscher:innen durch ihre Arbeit in ganz wesentlichem Maße am Erfolg vieler Industrie- und Handelsunternehmen beitragen? Dass auch unzählige Pressemeldungen aus aller Welt ohne den Einsatz dieser Berufsgruppe für die hiesige Öffentlichkeit gar nicht zugänglich wären?
„Es gibt doch Soforthilfen“, denken Sie? In vielen Fällen greifen die Bedingungen nicht oder in nicht ausreichendem Maße (s. unten).
Liebe Medienvertreter und Politiker, denken Sie bitte auch an die selbstständigen Übersetzer:innen und Dolmetscher:innen und versuchen Sie alles, um ihnen unter die Arme zu greifen. Liebe Medien, bitte berichten Sie auch über diese Berufsgruppe.
Ich danke Ihnen im Namen all meiner Kolleginnen und Kollegen.
Giselle Chaumien
Lesen Sie hierzu die jüngste Pressemeldung des BDÜ sowie das entsprechende Positionspapier.
Liebe Frau Chaumien,
traurig genug, dass sich einige Berufsgruppen immer wieder deutlich zeigen müssen, um nicht einfach im Gemenge unterzugehen. So auch die Übersetzer/Dolmetscher:innen.
Eine meiner Berufskolleginnen – ungar. Unternehmensberaterin mit großem Team an Coaches und Beratern – hat als „fall-back-Scenario“ den Weg in die Dolmetscherei im Auge, weil diese vor 35-40 Jahren ihr beruflicher Start war. Ich habe mich gar nicht getraut, ihr ins Gesicht zu sagen, dass sie vielleicht Glück hat, weil die Google-Übersetzungsmaschinen möglicherweise des Ungarischen noch nicht so fähig sind wie sie bereits andere, von denkenden Menschen bewältigte Übersetzungsleistungen vom Markt fegen.
Einige von uns werden umdenken müssen.
Schön, dass Sie sich für Ihre Berufsgruppe stark machen.
Viel Erfolg, liebe Grüße
Petra Schulte
Liebe Frau Schulte,
ja, die Situation ist schwierig. Unabhängig von der Corona-Pandemie sind aber meiner Meinung nach gute Übersetzer:innen und Dolmetscher:innen nach wie vor gefragt – da können Google und DeepL nicht mithalten, wenn es um Fachtexte geht.
Danke für die guten Wünsche und lieben Worte. Bleiben Sie gesund.
Herzliche Grüße
Giselle Chaumien