Bestandsaufnahme
Spätestens ab jetzt kann und will ich mich zurücklehnen und die Dinge gelassen betrachten. Das ist einer der Vorteile des Alters. Moment mal … Was heißt hier „Alter“? Ich spreche hier die Generation Ü50 an, die noch berufstätig ist. Als Rentner gilt das dann ohnehin quasi „automatisch“. In meinem Alter kann ich mir die Rosinen herauspicken. Welche Rosinen? Einladung zu meiner Bestandsaufnahme …
Für einen Klienten durfte ich im Sommer letzten Jahres an einem hausinternen Workshop teilnehmen, bei dem es um Selbstmanagement und Selbstreflexion ging. Die Firma, die diese Veranstaltung durchführte und einen hochkarätigen Referenten verpflichten konnte, hatte einem ihrer Lieferanten zum nächsten Termin vier kostenpflichtige Plätze angeboten – eine durchaus übliche Praktik in der Industrie, die Kosten spart und Gemeinsamkeiten schafft. Ich sollte für den Lieferanten prüfen, ob der Workshop nutzbringend ist. Ein interessanter Auftrag. Ach ja: Nein, es ging nicht um Gehirnwäsche oder „Mitarbeiter gefügig machen“ oder „leere Phrasen dreschen“, wie vielleicht vermutet wird. Think positive!
Aus Gründen der Vertraulichkeit darf ich hier weder Namen noch Methoden, die der Referent angewendet hat, preisgeben. Allein meine eigenen Ergebnisse, also Erkenntnisse, die ich über mich und für mich herauskristallisiert habe und aus dem Event mitnehme, dürfen besprochen werden. Kein Problem, denn da gibt es einiges, was zum Nachdenken anregt.
Im Nachhinein sage ich mir: Logisch, das war doch klar, das wusste ich doch. Wirklich? Im Unterbewusstsein sicher. Den Schritt zu wagen, die gewonnenen Erkenntnisse auszusprechen, sie präzise zum Ausdruck zu bringen, sie im Workshop in einem an mich selbst gerichteten Brief, der erst verschlossen und dann Monate später wieder geöffnet werden „durfte“, so treffend wie nur möglich auszuführen und vor allem sie auch möglichst konsequent zu leben, setzt eine andere Dimension des Umgangs mit sich und mit anderen voraus: mehr Klarheit, Aufrichtigkeit und Authentizität, mehr Konsequenz und Selbstbewusstsein. Und ja: Der Zeitpunkt dieses Test-Workshops hätte nicht besser passen können. Zufall? Ich glaube nicht an Zufall.
Bestandsaufnahme und die zweite Kamera
Clever ist der, der vor dem monatlichen Großeinkauf geprüft hat, was sich noch in seiner Speisekammer und im Kühlschrank befindet. Bestandsaufnahmen sind nichts anderes als eine Zwischenbilanz – das gilt auch für die Selbstreflexion: Wer bin ich? Was will ich? Warum? Was stört mich? Was freut mich? Was beflügelt mich? Wer und was ist mir wichtig (und warum?) und wer nicht und warum? Welche Konsequenzen ziehe ich daraus usw. Das klingt einfach, ist es aber nicht. Denn erst eine tiefgehende Reise in das innere Ich bringt Dinge zu Tage, die einen zumindest nachdenklich machen und manchmal überraschen. Geahnt hat man es (vielleicht) immer, aber wie bereits oben gesagt: Es auszusprechen, ist wieder ein anderer Schritt.
Die meisten Menschen erwarten, dass die anderen genauso fühlen, denken und handeln wie sie – zumindest im Unterbewusstsein. Und wenn nicht, dann wollen sie einem einbläuen, dass ihre Art zu fühlen, zu denken und zu leben die einzig richtige ist. Das geht so weit, dass sie selbst Begriffe, die unterschiedliche Bedeutungen haben, nur so verstehen, wie sie es eben wollen, und die anderen, vielleicht sogar geläufigeren Bedeutungen strikt ignorieren. Des Menschen Wille ist sein Himmelreich.
Aufgrund einer bestimmten Konstellation, die mir der liebe Gott in die Wiege gelegt hat, lebe ich in einer „anderen Welt“ und betrachte alles und jeden (auch mich selbst) mit zwei Kameras: Zum einen gibt es die Kamera der eigenen Augen, wie sie jeder andere Mensch wohl mehr oder weniger intensiv nutzt, und zum anderen die Kamera, die links oder rechts (in meinem Fall links) 15 cm schräg über dem Kopf hängt und zur Selbstbeobachtung im Zusammenspiel mit anderen dient. Das machen viele Menschen durchaus auch ab und zu, aber ich mache das kontinuierlich, ohne Unterlass und kann (will) es nicht abschalten.
Der wichtigste Mensch
Vor über dreißig Jahren nahm ich an einem bestimmten Seminar zum Thema Selbstmanagement teil – damals ein ganz „neumodisches“ Thema. Zu Beginn stand der Referent vor den Teilnehmern, schwieg ungemütlich lang, fixierte eine Person, zeigte mit dem Finger auf sie und sagte: „Sie sind der wichtigste Mensch in Ihrem Leben!“. Huch, was soll das? Aber es stimmt. Denken Sie darüber nach: Auch wenn noch so viele Menschen Ihnen vor einer OP sagen, dass sie bei Ihnen sind. Wer muss da durch? Sie! Da hilft nichts. Insbesondere Frauen – und vor allem Mütter – tun sich schwer, einen gewissen Egoismus an den Tag zu legen. Es ist oft ein langer Lernprozess. Wohlgemerkt: Es geht nicht darum, über Leichen zu gehen, sondern den Fokus etwas stärker auf das eigene Ich und die eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu setzen. Mit meinen bald sechs Jahrzehnten ist mir meine Zeit, meine Restlaufzeit so wertvoll geworden, dass ich mir genau aussuche, mit wem ich sie verbringe, womit ich sie verbringe, wozu ich sie nutze – das sind nicht immer hochtrabende Dinge, aber ICH entscheide – das ist der springende Punkt.
Der Meryl Streep Ansatz als Mind-Map
Die kognitive Technik des Mind-Mapping wurde von Tony Buzan erfunden. Die dabei entstehende Mind-Map oder Gedanken[land]karte dient dem Erschließen und visuellen Darstellen eines Themengebietes, Gedankengefüges, aber auch der Planung und dem Strukturieren. Im Workshop, den ich testen sollte, wurde in Anlehnung an Meryl Streep, die vor wenigen Jahren mit deutlichen Worten festgehalten hat, was sie will und nicht will, mithilfe des Mind-Mapping eine Landkarte der eigenen Gedanken und Bedürfnisse erstellt – jeder Teilnehmer für sich, in … ja, mühevoller Kleinarbeit und mit der einfühlsamen Anleitung (jedoch nicht Beeinflussung) des Referenten. Eine spannende Arbeit, die einfacher klingt, als sie ist. Die so zustande gekommene Landkarte sollte dann jeder Teilnehmer einige Monate in einem verschlossenen Umschlag „ruhen“ lassen, um sie dann später zu begutachten, zu ergänzen und ggf. zu ändern.
Ein Fakt, der dabei unbedingt zu beachten ist: „Die Landkarte ist nicht die Landschaft, aber wenn die Landkarte der Struktur der Landschaft ähnlich ist, ist sie brauchbar“ (im Original: „A map is not the territory it represents, but, if correct, it has a similar structure to the territory, which accounts for its usefulness”). Alfred Korzybski, der die NLP (neurolinguistische Programmierung) und die Gestalt stark prägte, vermittelte mit dieser Aussage in seinem Hauptwerk Science and Sanity, dass der Mensch in zwei Welten lebt: in der Welt der Sprache und der Symbole einerseits und in der realen Welt der Erfahrung andererseits. Korzybski führt aus, dass das menschliche Gehirn fähig ist, allein auf die Landkarte zu reagieren und das dargestellte Gelände (im Extremfall) vollständig zu vergessen, also fähig ist, etwas für wahr zu halten beziehungsweise zu glauben, was es nicht gibt, und dann damit aufhört, zu überprüfen, ob es das wirklich gibt. (Erinnert mich das an jemanden? 😉 )
Meine Gedankenlandkarte in Auszügen
In meinem Alter …
ist meine Bereitschaft zu Verständnis gegenüber Personen, die keine Charaktergröße besitzen, sich nicht zu benehmen wissen und/oder der Meinung sind, dass Frechheit und Schnippigkeit „in“ sind, gleich Null, ganz egal, ob dies im virtuellen Raum von Internet im Allgemeinen und Social Media im Besonderen oder in der realen Zeit „üblich“ ist. Praktiken, bei denen ein Mensch ausgegrenzt oder diskriminierend behandelt wird, lehne ich kategorisch ab. Insbesondere sind mir Personen gleichgültig, die sich anmaßen, über andere zu urteilen, die schwachen, hilfsbedürftigen und unsicheren Menschen durch ihr Verhalten seelisches Leid zufügen. Ich will mich nicht mehr mit dummdreisten, aggressiven, charakterlosen und intoleranten Menschen abgeben. Destruktive Kritik, Hasstiraden, Häme, Neid und Missgunst sind mir ebenso zuwider wie Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz gegenüber Minderheiten, die weder die Stärke, Kraft noch die Mittel haben, sich zu wehren. Nichts, aber auch gar nichts entschuldigt solche Verhaltensweisen.
Ich will mit Menschen zu tun haben, die ihr Gegenüber respektieren, auch wenn dieses „Gegenüber“ nicht in ihr gewünschtes Schema passt. Respekt ist nicht gleichbedeutend mit „ich denke wie du“, aber Respekt ist das Minimum, was ich erwarte.
Integrität, Loyalität, Fairness, Offenheit und – ich kann es gar nicht oft genug wiederholen – Respekt im Umgang miteinander sind für mich unverzichtbare Werte. Ich will mit Leuten, die diese Werte nicht beachten – in kleinen wie in großen Dingen – nichts zu tun haben. Nein, das hat nichts mit Arroganz zu tun – es ist purer Egoismus und dient meiner (seelischen) Gesundheit.
Leute, die Tiere misshandeln, sind keine Menschen und können ebenso wenig mit meiner Akzeptanz rechnen wie diejenigen, die nachtreten, wenn ein Mensch am Boden liegt.
Wer der Meinung ist, dass Menschen, die ihre Kraft und Zeit einsetzen, um anderen zu helfen, dies aus niederen Motiven tut oder um Bewunderung, Gegenleistung, Huldigung u. Ä. zu bewirken, ist zutiefst zu bedauern. Wie erbärmlich muss doch das Leben desjenigen sein, der so denkt?!
Wer spontan ermutigt, aufbaut, motiviert, fördert und dem anderen zulächelt, dem gebührt Respekt – und nicht dem, der ein aus meiner Sicht verkorkstes Weltbild hat, seine eigenen Vorurteile verbreitet, jegliches Bemühen des Gegenübers negativ beurteilt, sich negativen Einflüssen hingibt.
Wer Vertrauen schenkt, Wohlwollen und Zuversicht bereithält, sich in Verständnis zumindest versucht, dem zolle ich gerne meinen Respekt. Was mich an einem Menschen interessiert, ist nicht seine Gunst, Bewunderung oder Dankbarkeit mir gegenüber. Ich bin neugierig, wie es ihm geht, was er fühlt, wie er die Welt sieht, wonach er sich sehnt, welche Träume er hat und ob er den Mut hat, ihre Verwirklichung in Angriff zu nehmen. Gerne helfe ich ihm ein Stückweit dabei, wenn ich es vermag, und erwarte keine Gegenleistung. Wie könnte ich für eine ausgestreckte Hand eine Gegenleistung erwarten? Wer bei Hilfe in Dimensionen von Leistung und Gegenleistung denkt, hat ein Problem mit sich.
Ich erfreue mich am Hier und Jetzt und bin neugierig, ob mein Gegenüber das auch tut, ob wir ein kleines Stück des Weges gemeinsam gehen können, ob er in der Lage ist, sich vom Glück des Moments erfüllen zu lassen und diese Freude – seine eigene oder die des anderen – bis in die Zehenspitzen spüren kann, ohne auf das unvermeidbare Haar in der Suppe zu zeigen. Ich will mit Menschen zusammen sein und kommunizieren, die bereit sind, das Gute im anderen zu sehen und das weniger Schöne auch anzunehmen; Menschen, die eigene Verfehlungen und die des anderen akzeptieren, ohne das Messer in die Wunde zu stecken; mit Menschen, die ein Gewissen haben und es sich nicht einfach machen, wenn es gilt, sich zu entschuldigen; mit Menschen, die zum Dialog bereit sind, auch wenn dieser schwierig sein könnte, Menschen, die zuhören, ohne dem anderen über den Mund zu fahren oder vor den Kopf zu stoßen; mit Menschen, die sich öffnen, wenn sie das Bedürfnis dazu haben, und dem anderen ihr Vertrauen schenken; mit Menschen, die eine ausgestreckte Hand nicht ausschlagen; mit Menschen, die nicht griesgrämig in die Welt blicken und per Rundumschlag alles abtun, sondern die ihre Unzufriedenheit abschütteln und etwas tun, um die Ursache des Unmuts zu bekämpfen.
Ich bin neugierig auf Menschen, die mit sich alleine sein können, wenn alle fehlen, und die fähig sind, um Zuwendung zu bitten, wenn ihnen die leeren und schweren Momente zu viel werden; und ich freue mich über Menschen, die Zuwendung anbieten, bevor sie darum gebeten werden, weil ihre feinen Antennen erspüren, dass der andere sie braucht; Menschen, für die Respekt selbstverständlich ist. Ich finde Menschen spannend, die charismatisch und selbstbewusst sind, die weder launisch noch sprunghaft sind und einen dennoch immer wieder aufs Neue überraschen. Menschen mit Herzenswärme, die das Wort „danke“ aufrichtig sagen, die kein Problem haben, sich ernsthaft und mit ganzem Herzen zu entschuldigen, wenn sie in ein Fettnäpfchen getreten sind oder einmal über das Ziel hinausgeschossen haben; Menschen, die nicht vorverurteilen, sondern jedem eine Chance geben. Menschen, die so wissbegierig wie ich sind, mit denen ich das Feuer in mir teilen kann. Denn wer Feuer teilt, verliert nichts – im Gegenteil. Menschen, die anstelle von billigen Verleumdungen und Verdächtigungen den Mut haben, in den Dialog zu treten, um die Wahrheit zu erfahren; die sich nicht nur die eine Seite anhören, sondern beide Parteien zu Wort kommen lassen. Menschen, die Ideen haben und alles daran setzen, sie umzusetzen. Menschen, die ihre Arbeit lieben und ihre Begeisterung dafür teilen. Menschen, die aus der großen Suppenschüssel des Lebens, in der saftige Fleischstücke, leckere Gemüsestifte und feine Nudeln schwimmen, nicht nur herausschöpfen, was sie brauchen, sondern auch etwas hineintun, damit auch andere etwas davon haben. Menschen, die mit random acts of kindness ihr Leben bereichern und anderen eine Freude bereiten, weil sich ihr Herz daran erfreut.
Einfach wundervoll, so wie Du selbst! <3
Oh, ich danke dir, liebe Monique. xxx
Schlicht und elegant auf den Punkt gebracht. Vielen, vielen Dank.
Vielen Dank, Henriette, für diese positive Rückmeldung.
Danke für diesen wunderbaren Artikel, Giselle.
Danke, Margret, für die Anerkennung.
Ein besonders guter Artikel, Giselle, danke!
Herzlichen Dank, es freut mich, wenn er dir gefällt.
Merci ma chère, du schreibst mir aus der Seele.
Danke, liebe Sabine.
Words of truth. Thank you, Giselle, for your thoughts.
It’s a pleasure, Heather.