Das Aufwachen der Welt beobachten
Manchmal komme ich auf die verrücktesten Ideen. So am gestrigen Samstag: Wie wäre es, wenn ich am Sonntag mal um 5 Uhr aufstehe? Gesagt, getan. Selbstversuch … und der Bericht, wie es heute Morgen war.
Sind Sie Frühaufsteher? Ich nicht. Allerdings bin ich auch keine Langschläferin. Ich gehe meist gegen Mitternacht ins Bett, dann wird noch gelesen – gute Krimis, Sie wissen ja: „Ohne Krimi geht die Mimi nicht ins Bett“ … Und ich stehe meist um 7 Uhr auf, am Sonntag vielleicht mal um halb acht, später nicht. Ich finde, dass sechs bis sechseinhalb Stunden Schlaf für mich ausreichend sind. Übrigens bin ich auch in der Zeit meiner Festanstellung, immerhin etwa 30 Jahre lang, nur dann vor 7 Uhr aufgestanden, wenn ich dienstlich verreisen musste. Ein großes Glück, denn Millionen von Menschen müssen tagtäglich um 6 Uhr oder früher aufstehen oder gar Schicht arbeiten.
Um 5 Uhr aufzustehen, das ist eine echte Herausforderung für mich, der ich mich stelle, weil ich erfahren will, ob die Welt morgens um 5 anders ist.
Der Radiowecker schaltet sich ein, ich höre ihn sofort, obwohl ich ihn sonst, wenn er sich werktags um 6 Uhr 30 meldet, überhöre und erst kurz vor 7 Uhr bewusst wahrnehme. Habe ich in dieser Nacht unbewusst anders geschlafen, weil ich mich innerlich darauf eingestellt habe, um 5 Uhr aufzustehen? Meine Gedanken sind sofort wach und kreisen um die Frage: Worauf habe ich mich da nur eingelassen? Was hat mich geritten?
Ich gebe mir einen Ruck und steige aus dem Bett. Mein Terrier Filou, der noch gemütlich in seinem Korb eingerollt ist, beäugt mich ungläubig ein paar Sekunden, um dann gleich wieder die Augen zu schließen. Auf dem Weg zum Bad drücke ich auf den zentralen Schaltknopf, um die Rollläden im Obergeschoss zu öffnen. Ich bin überrascht: Es ist noch dunkel. Irgendwie hatte ich erwartet, dass es um diese Zeit im August schon hell ist. Aber ja, es leuchtet mir ein, die Tage werden ja seit 21. Juni wieder kürzer. Die nächste Überraschung erwartet mich im Bad: Die Zeitschaltuhr für die Warmwasser-Umwälzpumpe ist auf 6:30 Uhr eingestellt, ich muss also das Wasser etwas länger laufen lassen, bis warmes Wasser den Weg in den ersten Stock gefunden hat. Zwanzig Minuten später stelle ich mir eine typisch weibliche Frage: Was ziehe ich an? Wegen der Dunkelheit kann ich leider nicht sehen, wie das Wetter ist. Der Wetterfrosch im Radio sagt aber, dass es heute „meist schwül und heiter bis sonnig sein wird“. Das Außenthermometer, das ich auf dem Display über der Steckdose im Bad ablesen kann, meldet 19 Grad Celsius. O.K. dann weiß ich Bescheid.
Kurz darauf sehe ich nach Filou, der tief und fest schläft – oder zumindest so tut, als ob. Vor seinem Schlafkorb kniend bilde ich mit meinen Armen und meinem Oberkörper eine Art Höhle über Filou, so schmusen wir, und ich vergesse die Zeit – ich könnte glatt sofort wieder einschlafen. Meine leise gehauchte Einladung „komm, wir gehen Gassi“ bleibt unbeachtet. Als ich aufstehe, brummt der schwarzweiße Fellknäuel wohlig. Die Botschaft ist klar: Lass mich bloß schlafen.
Also wird es nichts mit dem Gassigang am ganz frühen Morgen. Im Erdgeschoss lasse ich die Rollläden auch alle hoch und blicke mich um: Alles dunkel da draußen. Was soll ich bloß machen so früh am Morgen, frage ich mich und spiele kurz, ganz kurz, mit dem Gedanken, wieder ins Bett zu gehen. Nein – auf keinen Fall! Ich öffne die Tür des Wintergartens und trete mit ein paar Schritten in den Garten, bleibe still stehen und lausche den Geräuschen. Es ist kurz nach halb sechs, frisch, nein, „lauwarm“. Ich hole mir ein Sitzkissen und mache es mir auf der Terrasse gemütlich, genieße die letzte Phase einer lauen Sommernacht. Ein paar Vögel zwitschern. Ich glaube, den hellen perlenden Gesang des Rotkehlchens zu erkennen, das melodische Einstimmen einer Amsel, und dann trommelt auch schon ein Buntspecht auf einem Ast oder Baumstamm. Tock tock tock, klingt es unermüdlich. Aus meiner Schulzeit weiß ich noch, dass diese Vögel etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang stimmaktiv werden. Wie schön: Die Zeit scheint still zu stehen, und doch vergehen die Sekunden und Minuten. Ich genieße diese Zeit und konzentriere mich voll und ganz auf das, was ich höre. Drüben links raschelt etwas: Das wird der Igel sein, der uns hin und wieder besucht. Ich sitze ganz still und bewege mich nicht, um ihn nicht zu erschrecken. Meine Augen gewöhnen sich langsam an die Dunkelheit, die Umrisse der Gartenhütte, des Pavillons, der Wäschespinne und des Rosenbogens meine ich klar auszumachen. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, und mein Gehirn lässt mich glauben, dass meine Augen die Bilder sehen, die ich im Kopf habe. Spannende Hörerlebnisse, die ich da geschenkt bekomme. Das frühe Aufstehen hat sich schon gelohnt. Carpe diem.
Am Himmel sind erste schüchterne Lichtstreifen zu erkennen. Da zetert auch schon eine Blaumeise im Geäst. Ihr scheint es offensichtlich nicht zu gefallen, dass ich da sitze. Oder stört sie sich an dem Eichhörnchen, das ohne größere Eile über den Rasen hoppelt und offensichtlich weiß, dass Filou noch schläft? Es liegt eine wunderbare Ruhe über dem Land, die ich mit Worten kaum beschreiben kann. Die Lichtstreifen setzen sich langsam durch, und der Himmel ist nicht länger schwarz, sondern anthrazitfarben mit rosa Streifen. Ich weiß nicht, wie viel Uhr es ist und wie lange ich schon auf der Terrasse sitze. Der Mond wird sich bald verabschieden und dem Tag Platz machen. Auf einmal macht sich ein Star bemerkbar. Äußerlich setzt er mit seinem bescheidenen Gefieder ganz klar auf Understatement, seine Stärke ist sein Gesang, denn neben seinen eigenen Melodien besitzt er die Fähigkeit, andere Vögel perfekt nachzuahmen. Wir haben schon seit vielen Jahren mehrere Starenkasten im Garten und erfreuen uns sehr an unseren Mitbewohnern.
Wenn sich der Star meldet, ist der Sonnenaufgang nicht mehr weit. Und in der Tat: Ein paar Minuten, höchstens zehn Minuten später klart der Himmel auf, ein wunderschöner Himmel, der für heute Sonne und Wärme verspricht. Ich gehe zurück ins Haus – es ist halb sieben – und hole die Wochendzeitungen aus dem Briefkasten, mache mir einen Kaffee und setze mich wieder auf die Terrasse. Selten nehme ich mir so viel Zeit, um das Wochenblatt zu lesen, und fange an, ein Sudoku zu lösen. Die Zeit scheint still zu stehen, doch tickt die Uhr des Lebens. Ich bin froh, dass ich heute so früh aufgestanden bin und den Tag so begonnen habe. Gegen sieben – meine normale Aufstehzeit – gehe ich zu Filou, der immer noch in seinem Korb liegt und darauf wartet, dass wir unseren gemeinsamen Tag „ganz normal“ beginnen. Mit Schmusen.
(Der Beitrag entstand im August 2015. Ziemlich genau vier Jahre später ging Filou über die großen Regenbogenbrücke.)