Wer als Übersetzer:in langfristig bestehen will, hat keine (andere) Wahl.
In meinem Blogpost Übersetzer: langfristig bestehen haben wir gesehen, dass der Übersetzungsbedarf kontinuierlich steigt. Gut. Bedeutet das gleichzeitig, dass die Zukunft ALLER Übersetzer:innen für die nächsten fünfzig Jahre gesichert ist? Definitiv: nein.
Markt mit zwei Gesichtern
In der translation industry sieht die Marktsituation so aus:
Auf der einen Seite der riesige bulk market, auf dem sich die Preisspirale nach unten orientiert und sich trotz dieser Preissituation immer jemand findet, der den Auftrag annimmt. Qualität steht hier nicht unbedingt im Vordergrund, was nicht bedeutet, dass auf dem bulk market arbeitende Übersetzer:innen immer schlechte Arbeit abliefern – weit gefehlt, aber Qualität ist hier nun einmal nicht das oberste Kriterium.
Auf der anderen Seite der wesentlich übersichtlichere feingegliederte premium market, auf dem hochqualifizierte und hochspezialisierte Übersetzer:innen ihre Dienstleistung hochpreisig anbieten. Diesem Premium-Markt liegt ein einziger Leitgedanke zugrunde, der mit dieser kurzen Frage umrissen werden kann: „Was kostet uns [Auftraggeber-Firma] ein Übersetzungsfehler im Vergleich zu den Kosten für eine perfekte Übersetzung?“
In diesem dichotomen Marktgefüge tritt nun verstärkt eine von vielen Übersetzern (m/w/d)* als Bedrohung empfundene Figur auf: die Künstliche Intelligenz, beispielsweise in Form von DeepL.
Und schließlich schwappen Jahr für Jahr neue Dienstleister auf den Markt, die sich als Übersetzer:innen bezeichnen und weder eine ordentliche Qualifikation (die auch Quereinsteiger besitzen können) noch das nötige Sprachgefühl haben, aber vielfach jeden noch so schlecht bezahlten Auftrag annehmen und so das Marktgeschehen kräftig verzerren.
Daraus ergibt sich, dass es für viele Kolleginnen und Kollegen, wenn sie mindestens mittelfristig bestehen wollen, keine Alternative gibt: Sie müssen sich einer Wurzelbehandlung unterziehen, äh, das Problem an der Wurzel behandeln.
Die lädierte Wurzel
Interessanterweise wird, wenn in den Medien von der translation industry die Rede ist und einmal nicht über Literaturübersetzer:innen berichtet wird (es scheint so, als würden die Medien nur Letztere kennen und nicht wissen, dass das Übersetzungsvolumen im nichtliterarischen Bereich wesentlich höher ist) – also wenn es um das Thema geht, wird so getan, als gäbe es ausschließlich den Massenmarkt, den bulk market. Und noch bedenkenswerter ist die Tatsache, dass sowohl unzählige bereits im Beruf stehende Kolleginnen und Kollegen als auch praxisferne Dozentinnen und Dozenten in den einschlägigen Bildungsinstituten (einschl. Hochschulen) ins gleiche Rohr pusten. Da werden Statements abgegeben, die angehende Übersetzer:innen eigentlich dazu veranlassen müssten, ihr Studium unverzüglich abzubrechen und einen anderen Beruf weitab von dieser Branche ins Auge zu fassen. Im Laufe der letzten Jahre habe ich eine ganze Reihe solcher Statements gesammelt. Hier nur einige Beispiele:
> Die Kunden wollen nicht(s) mehr zahlen / drücken die Preise.
> Der Beruf wird nicht (mehr) anerkannt.
> Es wird immer schwieriger, gut bezahlte Aufträge zu bekommen.
Wer, bitteschön, sind „DIE“ Kunden?! Wer, bitteschön, legt den Preis für IHRE Dienstleistung fest? Wenn Sie es nicht tun, machen Sie etwas falsch. Wer, bitteschön, ist die Ursache für die geringe Anerkennung? Und was, bitteschön, tut der-/diejenige, der/die das sagt, um gute Kunden zu akquirieren?
Das Freilegen der Wurzel
Ich muss mit meinem Bohrer noch tiefer gehen, bis zur Wurzel vordringen und diese freilegen. Kann ein Mensch tatsächlich aus freien Stücken Folgendes wollen:
> Ein Berufsleben lang unter Zeitdruck und im Stress wenig Umsatz und noch weniger Gewinn erwirtschaften?
> Sich ständig Sorgen um die eigene Zukunft und ggf. die seiner Familie machen?
> Kaum oder nicht in der Lage sein, Vorsorge für das Alter zu treffen?
> Sich in den social media immerzu über schlecht bezahlte Aufträge, schwierige Kunden, Zeitdruck usw. beklagen?
Ich merke: Sie spüren den Schmerz, ja, eine Wurzelbehandlung ist kein Spaziergang, aber es muss sein. Na ja, Sie sind ein freier Mensch, Sie können hier und jetzt aufhören zu lesen. Aber dann wird der Zahn weiter schmerzen, hin und wieder für eine dicke Backe sorgen. Früher oder später ist dann eine Wurzelspitzenresektion oder gar die Zahnextraktion fällig. Dann ist die Frage, was als Ersatz kommt und wie die Kostensituation aussieht.
Sie verstehen nicht, was ich meine? Also: Wenn Sie nichts tun, wird sich auch nichts ändern. Das ist eine Binsenweisheit. Im Gegenteil: Angesichts der Entwicklung von KI werden zunehmend weniger Aufträge im Bereich bulk market an den human translator vergeben, weil sie von der Maschine übernommen werden.
Auf der anderen Seite steht fest: Ist die Wurzelbehandlung einmal erfolgreich abgeschlossen, lebt es sich ungemein angenehmer, denn dann können Sie mit Biss und Signal-Lächeln durch die Welt gehen und die Kukident-Haftcreme in der Apotheke liegen lassen.
Die Wurzelbehandlung
So eine Wurzelbehandlung ist schmerzhaft, ja, und sie erfolgt in mehreren Etappen. Die tatsächliche Behandlungsdauer hängt vom individuellen Fall ab. Zunächst kommt es darauf an, ob eine Erst- oder Revisionsbehandlung durchgeführt wird. Wer schon einmal versucht hat, sich am Markt besser zu positionieren, doch zu schnell aufgegeben und/oder zu Maßnahmen gegriffen hat, die nicht weitreichend genug waren, sollte nicht verzagen. Aufstehen, Krönchen richten, neuen Bohreraufsatz einschrauben und … hopp, auf einen neuen Versuch!
Weiterhin ist die Dauer der Behandlung davon abhängig, welche Behandlungstechnik und welche Instrumente zum Einsatz kommen.
Zu den Schmerzen heißt es zwar, dass der Fortschritt heute eine weitgehend schmerzfreie Wurzelbehandlung ermöglicht. Aber ich bin der Meinung, dass es auch weh tun muss, damit man danach das Gute zu schätzen weiß.
Am Ende des letzten Blogartikels habe ich bereits die Komponenten dieser Wurzelbehandlung umrissen: Zur in meinen Augen unverzichtbaren Unternehmereignung spielt in Zukunft noch stärker als bisher die Marktpositionierung des Übersetzers bzw. der Übersetzerin im Hinblick auf sein bzw. ihr erfolgreiches Bestehen eine zentrale Rolle.
Marktpositionierung
Lesen wir zunächst bei Wikipedia nach: „Die Preisbildung (…) erfolgt theoretisch durch die Wechselwirkung von Angebot und Nachfrage, wobei vorausgesetzt wird, dass Markttransparenz besteht. In diesem Modell wird davon ausgegangen, dass sich der Preis auf einem kompetitiven Markt so einpendelt, dass er Angebot und Nachfrage ausgleicht; die dabei entstehende Preis-Menge-Kombination ist das Marktgleichgewicht. Übersteigt das Angebot die Nachfrage, so sinkt der Preis. Zu diesem tieferen Preis sind mehr Nachfrager bereit, das Produkt zu kaufen, aber weniger Anbieter bereit, das Gut anzubieten.“
Was heißt das in unserer Branche? Die Zahl der Übersetzer:innen, die im Bereich mass market tätig sind, ist weltweit wesentlich höher als der Bedarf an Übersetzungen in diesem Bereich, dadurch sinkt der Preis.
Ja, der Konkurrenzkampf zwischen den Lebensmitteldiscountern hat dazu geführt, dass zwar in diesem Segment die Preise fallen, aber es zeigt sich, dass der kleine und mittlere Fachhändler trotz des Drucks durch Lebensmitteldiscounter und Retailer langfristig (gut) wird überleben können – allerdings nur, wenn er seine Vorteile voll ausschöpft und sich gut am Markt positioniert. Wie gesagt: Entscheidend ist die richtige Marktpositionierung.
Ich bin fest davon überzeugt, dass es auf dem globalen Übersetzungsmarkt einen Platz „für alle“ gibt. Die Frage ist nur, wie sich dieser Markt für die einzelnen Akteure gestaltet und welchen Platz Sie da einnehmen wollen.
Anders ausgedrückt: Sie entscheiden, ob Sie den bulk market bedienen wollen oder ob Sie einem Segment der translation industry zugehörig sein wollen, wo Ihnen mehr wirtschaftliche und persönliche Freiheit durch deutlich höhere Wortpreise ermöglicht wird.
Zugegeben: Das „Wollen“ ist als Ausgangspunkt ebenso entscheidend wie das „Können“, also die Fähigkeit dazu. Voraussetzungen sind hier das Talent, in der Zielsprache hervorragend schreiben und nicht „nur“ übersetzen zu können, die Fähigkeit, dem Zieltext den ganz besonderen Schliff zu geben, die Expertise auf dem fraglichen Fachgebiet usw. Aber so wie auch ein talentierter Möbelschreiner mit Engagement, Eigeninitiative, Fleiß und Weiterbildung zum gefragten Ebenisten werden kann, vermag auch ein guter Übersetzer oder eine gute Übersetzerin den Spitzenbereich erreichen. Die Frage ist: Wollen Sie das? Wollen Sie als Übersetzer:in nur überleben oder wollen Sie gut, sehr gut von Ihrer Arbeit leben? Das können nur Sie für sich entscheiden.
Wenn Sie das ernsthaft wollen (und nicht nur sagen „ja, ich würde gerne“), dann heißt es: Wurzelbehandlung.
Wie die Wurzelbehandlung weitergeht, das erkläre ich Ihnen im dritten Teil meiner Reihe konkret und detailliert. Dann geht’s ans Eingemachte. Inzwischen analysieren Sie Ihre Situation (und das ist nicht in 1-2 Stunden erledigt) und entscheiden, was Sie tun wollen. Parallel können Sie sich auch mein Fachbuch „Das große 1×1 für selbstständige Übersetzer – Nachschlagewerk für die Praxis“ besorgen und schon einmal die entscheidenden Kapitel durcharbeiten.
Bis dahin herzliche Grüße.
(*) Ich versuche, in meinen Blogposts weitgehend zu gendern. Ist dies jedoch fallweise, beispielsweise bei Pluralbildungen u. Ä., zu umständlich oder stört es den Lesefluss, deckt das generische Maskulinum sowohl die weibliche und männliche Form als auch das dritte Geschlecht und alle anderen ab. Dies ist in keinem Fall als Zeichen einer Diskriminierung zu werten.
Giselle, das ist ein fantastischer Artikel, super argumentiert und so nett und nachhaltig geschrieben.
Vielen Dank dafür!
Herzliche Grüße, Karin Guta
Vielen Dank, liebe Karin. Es freut mich, dass dich der Artikel auf diese Weise anspricht.
Herzliche Grüße
Giselle