Antworten auf die Frage nach dem Sinn der Arbeit eines Übersetzers (*)
In der Planungsphase zum Relaunch meines Blogs Rüsterweg im Mai 2020 fragte ich in den social media nach Themen, über die man gerne lesen wolle. Einer der Vorschläge war: „über den Sinn der Arbeit des Übersetzers“. Es ist in der Tat gar nicht so verkehrt, über dieses Thema einmal gründlich nachzudenken, wobei der Aspekt „Lebensunterhalt bestreiten“ hier völlig unberücksichtigt bleibt.
Begriffsdefinition
Für alle, die es aus unterschiedlichen Gründen nicht wissen, sei kurz erklärt: Übersetzer sind Sprachmittler, die einen schriftlich vorliegenden Text von einer Ausgangssprache A in eine Zielsprache B übertragen. Dolmetscher (*) hingegen übersetzen gesprochenen Text mündlich – konsekutiv oder simultan – oder mittels Gebärdensprache.
Die meisten Übersetzer sind Solo-Unternehmer und haben sich auf eine oder mehrere Fachsprachen, zum Beispiel Technik, Recht oder Medizin, um nur einige zu nennen, spezialisiert. Man nennt sie Fachübersetzer. Daneben gibt es noch die Literaturübersetzer.
Der Sinnfrage erster Teil
Mit dem Literaturübersetzer will ich bei der Sinnfrage beginnen, dies obwohl oder gerade weil ich nicht aus diesem Arbeitsgebiet komme – aber gerade das tut hier nichts zur Sache. Was wäre, liebe Leserinnen und Leser, die Weltliteratur ohne Übersetzer? Wie hätten deutsche Muttersprachler ohne (ausreichend gute) Französischkenntnisse beispielsweise die Werke von Molière und Montesquieu, Victor Hugo und Alphonse Daudet, Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, Honoré de Balzac und Jean de La Fontaine kennenlernen sollen, gäbe es keine Übersetzer? Die gleiche Frage können wir für jede Sprache und die Autoren, die sich ihrer in ihren Werken bedienen, stellen. Ohne Literaturübersetzer würden die Menschen nur die Werke kennen, die in ihrer jeweiligen Muttersprache oder Landessprache verfasst sind. Welch trauriger, trostloser Gedanke und welch arme Welt …
Maurice Blanchot (1907 – 2003), ein nicht ganz unumstrittener französischer Journalist, Philosoph, Literaturtheoretiker und Schriftsteller, hatte für den Literaturübersetzer besonders anerkennende und schön formulierte Worte: „Als Fährmann zwischen den Gestaden ist sein Bewusstsein dafür geschärft, dass sich eine Sprache nie restlos in eine andere übertragen lässt. Er wohnt in einer Art ,Zwischen’, einem Raum des Übergangs, der zugleich einer des Abstandes ist, der es unmöglich werden lässt, eine einheitliche Pfingstsprache zu sprechen. Denn jede Sprache besitzt ihre eigene Zeitlichkeit: Wie lässt sich in einer Übersetzung dieser Unterschied in den historischen Ebenen beibehalten?“
Auch wenn insbesondere bei Gedichten einiges – so mein Empfinden – verloren geht, so ist doch die Arbeit eines Übersetzers ungemein wertvoll, trägt er doch zur Verbreitung der Dichtkunst im Allgemeinen und zur Bekanntheit des Dichters im Besonderen bei, dessen Werke er überträgt. Ich lese beispielsweise immer wieder gerne die Worte des persischen Dichters Hafes, die ich nur deshalb wertschätzen kann, weil sie von Cyrus Atabayins ins Deutsche übersetzt wurden.
Der Sinnfrage zweiter Teil
Übersetzer aus dem nichtliterarischen Bereich begeben sich mehr oder minder freiwillig in die Niederungen des Alltags. Sie haben beispielsweise mit Anästhesie, Chirurgie, Gynäkologie oder der Inneren Medizin zu tun, wenn sie sich dem Fachgebiet Medizin verschrieben haben; mit Betriebsanleitungen, technischen Dokumentationen oder der Beschreibung technischer Innovationen, wenn sie sich auf Technik spezialisiert haben; mit Kauf-, Geheimhaltungs- und Lizenzverträgen, wenn ihr berufliches Übersetzerherz für das Rechtswesen schlägt; mit Bilanzen, Finanzierungen sowie Wertpapieren, wenn sie sich für das Fachgebiet Wirtschaft und Finanzwesen entschieden haben. Die Liste könnte ich fast endlos fortsetzen und Fachgebiete wie Chemie, Agronomie, Reifentechnik, Kochbücher, Games usw. hinzufügen. Aber was hat das mit dem Sinn der Arbeit von Übersetzern zu tun?
Ganz viel. Nein, eigentlich alles. Ohne Übersetzer kein Welthandel, keine Globalisierung, kein internationaler Austausch von Wertpapieren und anderen Finanzinstrumenten, keine Patente und Lizenzverträge, keine ausgeklügelten Produktionsprozesse, die im Land A erdacht und in zahlreichen anderen Ländern umgesetzt werden, keine Maschinen, die im Land A erfunden und in unzähligen Ländern der Welt eingesetzt werden, keine grenzüberschreitenden Projekte, keine mehrsprachigen Internetseiten, keine Völkerverständigung rund um den Globus usw. Übersetzer öffnen mit ihrer Tätigkeit das Tor zur Welt, sie ebnen den Weg der Verständigung und tragen zum Zusammenwachsen der Weltgemeinschaft bei, sie unterstützen die private und geschäftliche Mobilität der Menschen weltweit, indem sie zum Beispiel Geburts- und Heiratsurkunden übersetzen – das alles gilt natürlich auch für Dolmetscher, ohne die es keine internationalen Kongresse und Konferenzen geben würde. Ist der Sinn der Arbeit von Übersetzern jetzt klar? Immer noch nicht ganz?
Der Sinnfrage dritter Teil
In den 1990er Jahren war ich im Rahmen eines Lehrauftrags als Dozentin am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft (FTSK, Fachbereich 06 der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz) tätig. Ich unterrichtete unter anderem Studierende des Examenssemesters im Bereich Übersetzungsübungen Technik in der Sprachkombination Deutsch-Französisch. Man sollte davon ausgehen, dass Studierende so kurz vor dem Abschluss ihres Studiums und vor dem Eintritt in das Berufsleben einigermaßen klare Vorstellungen davon haben, was sie im Beruf erwartet. Tja, leider ist dies nicht der Fall gewesen, und ich fürchte, dass sich auch heute an vielen Instituten, an denen Übersetzer ausgebildet werden, nichts oder nur wenig daran geändert hat. Zu analysieren, woran das liegt, würde hier zu weit führen und tut im Zusammenhang mit der Frage nach dem Sinn der Arbeit eines Übersetzers nichts zur Sache.
In Gesprächen mit den Studierenden kristallisierte sich heraus, dass sie – Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel – nicht einmal ansatzweise darüber Bescheid wussten, wo in einem Unternehmen mit seinen unzähligen Geschäftsprozessen Übersetzungsbedarf anfallen kann. Studierende mit Fachrichtung Wirtschaft gingen davon aus, dass in „ihren“ Texten keine technischen Begriffe vorkommen würden; Studierende mit Fachrichtung Technik waren überrascht, als sie hörten, dass zu technischen Projektdokumenten auch Kostenkalkulationen zählen, und Studierende der Fachrichtung Recht konzentrierten sich einzig und allein auf die juristische Fachsprache, ohne auch nur im Geringsten zu erwarten, dass in einem Lizenzvertrag auch technische UND wirtschaftliche Begriffe auftauchen könnten.
Was will ich damit sagen?
Die Frage nach dem Sinn der Arbeit eines Übersetzers setzt voraus, dass man sich mit der Frage nach den Inhalten seiner (künftigen oder aktuellen) Arbeit befasst; sich bis ins Detail wie ein Terrier danach erkundigt, Profis befragt (es gibt keine dummen Fragen), sich einliest, Fach-/Sachbücher durcharbeitet (nicht nur liest) und natürlich seine Nase auch in möglichst viele Firmen aktiv hineinsteckt – Stichwort Praktikum, Ferienjob usw. Wer das im Vorfeld versäumt, geht das Risiko ein, dass ihm die Tätigkeit des Übersetzers später im beruflichen Alltag nicht zusagt, weil er Sinn (und manchmal Unsinn) mancher Textergüsse aus dem Industriebereich nicht erschließen kann. Ich kenne durchaus einige Übersetzer, die „ganz gut“ sind, ihre Arbeit aber nicht sonderlich mögen und daher nicht „sehr gut“ sein können und es auch nie werden. Sie scheuen sich jedoch – verständlicherweise, wenn sie schon „ein gewisses Alter“ erreicht haben – einen Neuanfang in einem anderen Beruf zu wagen. Aber es ist nie zu spät. Sich einzugestehen, dass die erste Berufswahl falsch oder nicht optimal für einen war, ist in meinen Augen übrigens kein Versagen. Im Gegenteil.
Zurück zum Sinn
Die Frage nach dem Sinn kann eigentlich nur beantwortet werden, wenn der Begriff „Sinn“ klar ist. Was versteht man unter dem Sinn von etwas? Geht es um allgemeine Zufriedenheit, um Anerkennung und Wertschätzung, um angemessene Entlohnung, um interessante Inhalte? Wahrscheinlich geht es darum und um noch das berühmte „Stückweit Mehr“, das jeder nur für sich beschreiben kann – und das möchte ich in den folgenden Zeilen tun …
Als Mensch, der in einer bilingualen Welt aufgewachsen ist, war das Spiel mit meinen beiden Mutter-/Vatersprachen Deutsch und Französisch nie ein besonderes Thema in meiner Kindheit. Sie waren stets da, die beiden Sprachen, sie liefen parallel, miteinander, übereinander, quasi Hand in Hand und nicht selten durcheinander. Selbst unsere Schäferhunde waren zweisprachig: Sie reagierten auf beide Sprachen, will sagen, jeder Befehl existierte in zweifacher Ausfertigung (da Hunde höchstwahrscheinlich nicht wissen, dass es unterschiedliche Sprachen in unserem Verständnis des Wortes gibt). Wir sagten „sitz“ oder „assis“, und die Hunde reagierten richtig; „Platz“ oder „couché“, und auch das klappte. Keiner fragte nach Methoden für eine bilinguale Erziehung bei uns Kindern, geschweige denn bei den Hunden. Die Frage „überfordern wir die Kinder eventuell?“ haben sich unsere Eltern nie gestellt – sie war gar nicht da, diese Frage, warum auch, es lief ja alles gut. Und nein, keiner von uns war oder wurde überfordert, wir leb(t)en alle gut damit.
Dass ich ein Studium mit dem Abschluss Diplom-Übersetzer absolvierte, war eher Zufall und nicht unbedingt mein erster Berufswunsch. Was dann aber in meiner beruflichen Laufbahn folgte, war ein Glücksfall und eine Offenbarung. Im Laufe der Jahre war ich nicht immer als Übersetzerin tätig, aber die beiden Sprachen (und zusätzlich auch Englisch, das ich auch studiert habe und in dem internationalen Unternehmen, in dem ich tätig war, damals als zweite Konzernsprache galt) waren immer stark präsent – quasi jede Minute und erfreulicherweise in einer ähnlichen Form wie in meiner Kindheit – in allen Kontakten, Meetings, Unterlagen, Gesprächen usw.
Ständig parallel und über Kreuz
In meinem Kopf „laufen“ ständig zwei Sprachen, immer und überall. Ich lebe mit und von den Unterschieden zwischen diesen beiden Sprachen und bevorzuge im Zwiegespräch mit mir je nach Thema, Emotion, Ziel … die eine oder die andere Sprache. Wenn ich mein Leben in einem Buch erzählen müsste, wüsste ich nicht, welche Sprache ich wählen sollte oder könnte. Wenn ich einen Auftragstext im Original lese, sehe ich ihn fast schon in der Zielsprache. Und ich setze beim Niederschreiben oder (meist) Diktieren des fremdsprachlichen Textes alles daran, dass er nicht nach einer Übersetzung klingt. Und ich mache mir keine allzu großen Gedanken darüber, ob ich noch beim reinen Übersetzen oder schon beim Übertragen oder Transkreieren bin – bei aller Treue zum Originaltext natürlich. Mein Ansatz beim Übersetzen ist, stets zu behaupten: Genau so hätte der Verfasser des Textes formuliert, wenn er in der Zielsprache meiner Übersetzung geschrieben hätte. Würde ich literarische Texte übersetzen, wäre dieses Anliegen zwiespältig, wie Maurice Blanchot in „L’Amitié » sehr schön erklärt (Originalfassung am Ende des Blogbeitrags): „Jeder Übersetzer lebt von dem Unterschied zwischen den Sprachen, jede Übersetzung beruht auf diesem Unterschied und verfolgt dabei offensichtlich das perverse Ziel, diesen unkenntlich zu machen. (Das gut übersetzte Werk wird auf zwei entgegengesetzte Arten gelobt: Man würde nicht glauben, dass es übersetzt ist, heißt es; oder aber es ist wirklich das gleiche Werk, man findet es wunderbar identisch; aber im ersten Fall löscht man zugunsten der neuen Sprache den Ursprung des Werkes aus; im zweiten Fall zugunsten des Werkes die Originalität der beiden Sprachen; auf jeden Fall geht etwas Wesentliches verloren). In Wahrheit soll die Übersetzung keineswegs den Unterschied verschwinden lassen, dessen Spiel sie im Gegenteil darstellt; sie spielt ständig darauf an, sie verbirgt ihn, aber manchmal, indem sie ihn enthüllt und oft auch betont, ist sie das eigentliche Leben dieses Unterschieds, sie findet darin ihre erhabene Aufgabe, aber auch ihre Faszination, wenn es darum geht, die beiden Sprachen stolz durch eine eigene Kraft der Vereinigung zusammenzuführen, die der des Herkules ähnelt, der die beiden Ufer des Meeres zusammenzieht.“
So schöne Worte, die mir jedoch bei dem Gedanken an meine Übersetzungen über Reifentechnik oder Nitrosamine, über die Stabilität von Brückenpfeilern oder die Jahresergebnisse von Konzernen ein Schmunzeln ins Gesicht zaubern, denn da sind wir wieder bei den berühmten Niederungen … Dennoch ist für mich das Übersetzen eine befriedigende Arbeit, die mich in ähnlicher Weise zufrieden macht wie – und das meine ich keineswegs ironisch – wie das Streichen eines Raums mit neuer, frischer Farbe. Jeder abgeschlossene Satz in der Zielsprache ist wie eine frisch gestrichene Wand, die dem Raum ein neues Gesicht verleiht, obwohl der Raum immer noch im selben Gebäude liegt. Zu profan, meinen Sie? Für mich hat das etwas Erhabenes. Beim Übersetzen eines Textes kann ich den Fortschritt sehen, ich gehe Schritt für Schritt voran, manchmal auch einen Schritt zurück oder auch zwei, betrachte das Ganze wie ein Gemälde – da sind wir wieder beim Maler, dieses Mal beim Künstler – und setze da noch einen Pinselstrich und dort noch einen Farbtupfer. Ja, auch bei nichtliterarischen Texten gelingt (mir) das. Und DAS macht mich zufrieden und glücklich, nicht zuletzt, weil auch mein Auftraggeber zufrieden ist: Damit ist für mich die Frage nach dem Sinn meiner Übersetzerarbeit beantwortet.
(*) Hinweis: Im Sinne einer besseren Lesbarkeit deckt in dieser Veröffentlichung das generische Maskulinum (z. B. der Übersetzer, Freiberufler, Unternehmer) sowohl die weibliche und männliche Form als auch das dritte Geschlecht ab. Dies ist in keinem Fall als Zeichen einer Diskriminierung zu werten.
Dies ist wieder ein sehr schöner Beitrag. Es hat Spaß gemacht ihn zu lesen, bevor ich mich wieder in die „Niederungen“ der Übersetzung begebe. Während des Übersetzens habe ich im Hinterkopf immer das aufregende Gefühl, dass ich Menschen helfe zu verstehen und sehe mich als Brückenbauer. Manchmal ist es mühsam das richtige Wort, den richtigen Begriff zu finden, der das ausdrückt worauf es ankommt. Es ist die schönste Arbeit der Welt.
Danke, liebe Karin. Es hat auch Spaß gemacht, den Beitrag zu schreiben. Immer wieder habe ich ihn ergänzt und daran gefeilt.
Ja, es ist nicht immer einfach, den richtigen Begriff zu finden, aber gerade das ist ja die Herausforderung, die uns kitzelt.