Wer hin und wieder nein sagt, ist kein Egoist.
Ob Festangestellte oder Selbstständige, ob im Beruf oder im Privatleben – jeder kennt diese Situation. Der Chef erteilt Ihnen im Minutentakt neue Aufträge: Statistiken aufbereiten, Daten recherchieren, das nächste Meeting vorbereiten, ein Protokoll verfassen, zwischendurch ein paar Unterlagen ins Archiv bringen … Sie sagen freundlich zu und fragen sich, wie Sie das alles schaffen sollen. Panik ergreift Sie. Kurz vor Feierabend werden Sie gebeten, im Sekretariat der Geschäftsleitung auszuhelfen – nur 2-3 Stunden, dann wäre das erledigt. Kaum zu Hause angekommen, ruft die Freundin an und will über ein Problem reden. Und schließlich bittet die Nachbarin um Hilfe… Stopp! So geht es nicht weiter!
Der Ja-Sager und der Nein-Sager
Verallgemeinert betrachtet, erklären Psychologen und Verhaltensforscher: Wer immer allen Wünschen und Anforderungen anderer gerecht werden will, hat im Grunde kein ausreichend gefestigtes Selbstbewusstsein. Das müsse nicht unbedingt sehr offensichtlich zu spüren sein, rühre jedoch daher, dass tief im Innern eines jeden Menschen die Angst verankert ist, vom anderen nicht gemocht oder geliebt zu werden, weil dessen Wunsch nicht erfüllt wurde. Auch in der Erziehung und in der Religion wurde (und wird?) einprogrammiert: Bemühe dich um die Menschen in deinem Umfeld, achte auf die Wünsche deines Nächsten und denke an dich zuletzt.
Wer sich an meinen früheren Blogpost „Ja, mache ich“ von Mitte Juni 2013 erinnert, wird jetzt vielleicht denken: „He, Moment mal, mal gegen die Nein-Sager-Kultur, mal dafür?“ Doch bei genauerem Hinsehen und Lesen und Drübernachdenken, schließt das eine das andere nicht aus.
Im Beruf: verzwickter Teufelskreis
Im Beruf wird bei festangestellten Mitarbeitern mit einem „Nein-Sager“ oft das Bild eines nicht ausreichend belastbaren oder aber eines nicht kooperativen Menschen verknüpft. Wie bitte? Er will nicht einspringen, obwohl Not am Mann ist? Urteil: nicht teamfähig. Und sie weist diese Aufgabe von sich mit der Begründung, sie habe noch dies und jenes zu tun? Urteil: Ha, nicht belastbar! Er lehnt es kategorisch ab, auf seine Pause zu verzichten, obwohl jede Hand gebraucht wird? Urteil: egoistisch! So oder so ähnlich wird einem das Nein-Sagen in der Bürowelt ausgelegt.
Bei Selbstständigen kann die Problematik mit einem Hamsterrad dargestellt werden. Sie arbeiten seit längerer Zeit für diverse Stammkunden, die Ihnen in unregelmäßigen Abständen Aufträge erteilen. Prima. Sie haben sogar viel Spaß beim Bearbeiten dieser Aufträge. Sehr schön. Die Mails trudeln unregelmäßig, aber recht häufig ein, und Sie müssen nicht selten enge, sehr enge Terminwünsche erfüllen. Einen Auftrag ablehnen? Das kommt nicht in die Tüte. Dem Kunden einen späteren Liefertermin nennen? Das trauen Sie sich nicht. Ihr Hamsterrad hält Sie gefangen, Sie treten immer schneller, bringen es auf Hochtouren.
Ursachenforschung
Zu allererst gilt es, herauszufinden, warum Sie nicht nein sagen können. Fürchten Sie um Ihren Job? Wird Ihnen die Freundin deshalb die Freundschaft kündigen? Werden Sie von Ihrem Chef vielleicht als wenig engagiert oder unwillig eingestuft? Möchten Sie einfach nur bei allen beliebt sein? Oder wollen Sie allen beweisen, dass Sie ein Tausendsassa sind, für den Multitasking ein Leichtes ist? Oder ist von jedem Argument etwas dabei? Als Selbstständige(r) befinden Sie sich im Spannungsbogen zwischen einerseits der Freude an der Arbeit und dem Stolz darauf, dass Ihre Kunden Ihnen ihr Vertrauen schenken, und andererseits der Befürchtung, diese könnten sich anders orientieren, falls Sie einen Auftrag ablehnen oder auf später terminieren. Und so erreicht das Hamsterrad Formel-1-Geschwindigkeiten.
Im zweiten Schritt sind Bilder und stereotype Verhaltensweisen, die wir uns durch unsere Erziehung, Gewohnheiten usw. bewusst und unbewusst angeeignet haben, in Frage zu stellen. Muss ich jeder Wunschäußerung nachkommen, jeder Aufforderung folgen, jedem Ansinnen anderer gerecht werden? Spielen Sie gedanklich das berühmte Spiel durch: Was wäre, wenn ich das nächste Mal nein sage? Welche Folgen hätte ein Ablehnen? Als Selbstständige(r) müss(t)en Sie doch wissen, was Sie samt Fachkompetenz Ihrem Stammkunden wert sind.
Langsamer Lernprozess
In der dritten Phase lernen Sie – zunächst bei offensichtlich unwichtigeren Dingen – nein zu sagen. Bieten Sie dabei stets eine unkomplizierte Alternative an: „Du, ich kann heute Abend nicht mehr reden, ich bin einfach zu müde. Können wir morgen telefonieren?“ So oder so ähnlich kanalisieren Sie den Gesprächswunsch der Freundin und stellen fest, dass sich alle Ihre Befürchtungen ob einer schlimmen Reaktion mit dem ungezwungenen „na klar“ ebendieser Freundin in Luft auflösen. Also, geht doch!
Dem Kunden bieten Sie einen für beide Seiten akzeptablen Liefertermin an, dem Sie ihm mit einem Bonbon versüßen: das kostenlose Korrektorat des nicht ganz fehlerfreien Originaltextes, das Gratis-Lektorieren der Korrekturfahne Ihrer Übersetzung, falls dieser Text gedruckt werden soll, das Nichtberechnen des letzten Miniauftrags, den Sie ihm als „kostet nichts – gehört zum Service“ verkaufen.
Natürlich wird es jemand, der es seit Jahren oder gar Jahrzenten nicht anders gewohnt ist, als anderen alle Wünsche und Bedürfnisse zu erfüllen und lieber mit doppeltem Sicherheitsgurt noch schneller im Hamsterrad um die Wette rennt, damit er nicht herausfallen kann, nicht von heute auf morgen schaffen, seine problematische Verhaltensweise abzulegen. Backen Sie zunächst kleinere Brötchen und machen Sie bescheidene Schritte. Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden.
Zwischen Bauch und Kopf
Wer so gestrickt ist, dass es ihm schwer fällt, Grenzen zu setzen – denn nichts anderes ist das Nein-Sagen – muss lernen, zwischen Bauch und Kopf zu entscheiden. Wenn der Bauch spontan ja sagt und so dem Wunsch des anderen einmal mehr gerecht werden will, obwohl der Kräftevorrat schon ziemlich am Ende ist, sollte derjenige an seinen Verstand appellieren und nein sagen.
Am ehesten gelingt der Lernprozess (übrigens auch für Ihre Kunden), wenn mit dem „nein“ eine Erklärung für den anderen, der etwas von Ihnen will, und/oder eine Alternative einher geht. Geht es heute nicht oder nur schlecht und würde dabei die Qualität leiden, sind Sie morgen besser in der Lage, seinen Wunsch zu erfüllen und die gewohnte Qualität (deretwegen er ja zu Ihnen kommt) zu liefern. So haben Sie nicht das Gefühl, ablehnend zu sein. Im Gegenteil: Indem Sie auf sich und Ihre Fähigkeit, für den anderen eine Hilfe zu sein, achten, zeigen Sie Stärke. Denn: Aus einem leeren Sack ist nichts herauszuholen. Diese Binsenweisheit leuchtet jedem ein.
Für mich sorgen
Und Sie werden nicht nur feststellen, wie wunderbar Ihr primäres Bedürfnis nach Ausgeglichenheit und Arbeiten im „Normaltempo“ sowie das Einmotten des überflüssig gewordenen Hamsterrads sich darstellen. Vielmehr werden Sie an innerer Zufriedenheit und Leichtigkeit gewinnen, weil Sie einmal auf sich und nicht auf andere gehört haben. Jede Mutter weiß, wie schwer es ist, nein zu sagen und sich vordergründig „egoistisch“ zu zeigen, wenn alle Kinder gleichzeitig ihr Recht einfordern. Es ist jedoch niemandem damit geholfen, wenn die Mutter ernsthaft krank wird.
Nur wer nicht permanent das Gefühl hat, am Limit zu sein, hat die nötige Kraft, sein tägliches Pensum an Aufgaben zu bewältigen. Und wer in sich zentriert ist und die erforderliche Ausgewogenheit zwischen Pflicht und Kür, zwischen „für andere da sein“ und „für sich da sein“ beherzigt, ist hin und wieder auch gerne bereit, sich überdurchschnittlich für andere einzusetzen – wie gesagt: hin und wieder.
Für mich ist was das Thema angeht über die Jahre ein interessanter Lernprozess gelaufen. In jungen Jahren bin ich an alles dran gesprungen, was nach Auftrag roch und die Zufriedenstellen meiner Auftraggeber zu garantieren schien. Dass dies irgendwann mal im Chaos endet, war nur eine Frage der Zeit. Mittlerweile weiß ich, dass es die Nerven aller Beteiligten schont, wenn ich mein maximales Tempo nicht überschreite und meine Anzahl paralleler Tasks ebenso nicht. Auch eine klare Kommunikation über den Fortschritt hilft allen bei der Einschätzung des Fertigstellungstermins. Es ist eine Stärke, Qualität zu liefern und sich nicht in der Geschwindigkeit (und somit der Quantität) zu verzetteln. Wahrscheinlich führt der Wandel von Jung zu Alt zu solch einem Erfahrungsschatz, der einem überhaupt zu solch einem Schluss kommen lässt. Vor der Frage „was hätte ich in jungen Jahren anders gemacht?“ habe ich fast Angst, denn wahrscheinlich hätte ich bei einem anderen Verlauf als er nun mal war nicht den Erfahrungsschatz den ich jetzt habe. Wahrscheinlich hat es die Evolution so vorgesehen, dass man solch eine Entwicklung durchmacht. Vielleicht ist es ein wenig überheblich, zu denken, dass es die Evolution so vorgesehen hat, nur, weil es bei einem selbst so gelaufen ist, aber vielleicht hat die Evolution ja auch DAS so vorgesehen, dass man so denkt. 😉
Das trifft es auf den Punkt. In der Ruhe liegt nicht nur Kraft, sondern auch Qualität … des Lebens, der Arbeit usw.
Mit zunehmendem Alter wird man klüger und reifer und kann besser abwägen, was wann zu tun ist.
Vielen Dank, liebe Giselle!