Unübersetzbare Wörter? Kein Problem für den Profi!

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Unübersetzbare Wörter? Kein Problem für den Profi!

Bei schwierigen Texten ist der Profi gefragt.

Wo der Laie denkt, man brauche ja nur in einem Wörterbuch nachzuschlagen oder ein automatisches Übersetzungsprogramm zu bemühen, weiß der Profi-Übersetzer: Wörter und Wendungen lassen sich nicht  immer 1:1 übersetzen. Außerdem hat jeder Übersetzer seine … „Spezialwörter“, denen er am liebsten nicht begegnet. Dass Sprache lebt und sich dem Zeitgeist, den Vorlieben mancher Bevölkerungs- und/oder Altersgruppen und auch der technischen Entwicklung anpasst, ist eine Binsenweisheit. Und dass die französische Sprache – wenn es nach den Entscheidern ginge – vor Anglizismen und anderen sprachlichen Einflüssen bewahrt werden, ja gänzlich ohne diese „Unwörter“ auskommen soll, ist auch nichts Neues. Über das Reinheitsgebot der französischen Sprache hatte ich bereits vor einiger Zeit geschrieben.

Worum es mir heute geht: Jede Sprache wartet mit Wörtern auf, die schwer in die eine oder andere Fremdsprache zu übersetzen sind. Klar, das Wörterbuch nennt Entsprechungen. Wer sich aber in der Zielsprache zu Hause fühlt, weiß: Nein, das passt nicht hundertprozent – und wenn nur eine kleine Nuance fehlt. Oft empfindet der eine das so, während ein anderer der Meinung ist, das fremdsprachliche Pendant sei völlig in Ordnung. Das ist eben Sprache. Und genau da zeigt sich, wer ein guter Übersetzer ist. Denn je nach Kontext führt der Weg nur über Umschreibungen – und die müssen genau sitzen.

Meine Beispiele entnehme ich selbstverständlich aus meinem Sprachpaar Deutsch <> Französisch …

Gemütlich. Die Hütte, die Couch ist gemütlich. Das war gestern so schön gemütlich bei euch. Wir machen einen gemütlichen Spaziergang.

Das ist noch eines der einfachen Fälle. Das Wörterbuch schlägt confortable, convivial vor. Aber passt das immer? Bon, le sofa est confortable, d’accord. Man sitzt bequem darauf, aber bei der Hütte fängt es schon an. Sie ist mehr als nur confortable. Bei euch war es auch mehr als nur „convivial“, on se sentait à l’aise, comme chez nous, c’était bien, nous avons passé une agréable soirée … Aber ein Wort, um all das auszudrücken?

Mehr oder weniger regelmäßig, insbesondere im Sommerloch, wenn nicht gerade die Fußball-EM oder die Olympischen Spiele stattfinden, wird diese Frage auch von deutschen Zeitungen thematisiert. Doch nicht alle genannten mutmaßlich unübersetzbaren Wörter sind es tatsächlich. Warum? Weil sich die Autoren dieser Artikel mit einem ganz anderen Blickwinkel auf solche Wörter stürzen. So wird hier unter anderem Fremdschämen genannt. Avoir honte pour quelqu’un d’autre. Wo ist das Problem? Oder: Fingerspitzengefühl haben? Avoir du doigté. Geht doch. Weiteres Beispiel: Sie hat Kummerspeck angelegt? Elle doit ses rondeurs au chagrin. Natürlich streitet man sich in dem einen oder anderen Forum, ob rondeurs besser ist als bourrelets. Also ich persönlich wäre schon beleidigt, wenn meine Rundungen als bourrelets bezeichnet würden. 😉

Übrigens gefällt es mir sehr, wenn in den Foren über diesen oder jenen Begriff diskutiert wird, zeigt es doch, dass man sich damit auseinander setzt, darüber nachdenkt und versucht, den richtigen Begriff, die passende Formulierung zu finden.

In oben genanntem Artikel wird auch verabreden angeführt. Das ist ja mal überhaupt kein Problem im Französischen: prendre rendez-vous, fixer un rendez-vous. Auch die Schnapsidee findet in der idée saugrenue ihr Pendant. Gut, da geht der Schnaps verloren, aber Schnapsideen entstehen auch ohne Hochprozentiges. Und wer meint, die fremdsprachliche Entsprechung von Schnapsidee müsste unbedingt das Wort Schnaps enthalten, der moniert wahrscheinlich auch, dass dem Zieltext im Vergleich zum Ausgangstext 17 Wörter fehlen. Einen ähnlich falschen Ansatz bietet das Video zu diesem Artikel. Hier behauptet der Autor unter anderem, dass es kein Wort für Zungenbrecher im Englischen gibt, und führt dennoch tongue twister an. Klar, er erkennt die Zunge, was ihm missfällt ist, dass sie „getwistet“ und nicht gebrochen wird. Übersetzerprofis denken in anderen Kategorien.

Zurück zum eigentlichen Thema: Der Brückentag kommt eigentlich aus der französischen Wendung faire le pont. Scheinheilig hat eine ganze Reihe von Entsprechungen, angefangen bei d’un air doucereux bis hin zu avec une mine de sainte nitouche.

Schwieriger wird es zum Beispiel mit Fernweh. Und selten liegen die gängigen Wörterbücher und automatischen Übersetzungsprogramme so daneben: avoir la bougeotte (GT), ha ha, selten so gelacht. Envie de courir le monde (Pons), passt nur, wenn ich zum Beispiel sage, dass er/sie ständig von Fernweh geplagt ist. Und Langenscheidts Vorschlag envie des pays lointains ist nicht brauchbar, wenn ich sage, dass die Ausstellung über die Provence Fernweh in mir geweckt hat. Fazit? Der Übersetzer muss den Kontext genau erspüren und sich in die Situation hineinversetzen. Der Profi kann das. Ihm bereitet das Übersetzen der immer wieder als unübersetzbar hingestellten Wörter Schadenfreude, Weltanschauung, Ohrwurm, innerer Schweinehund usw. auch keine Schwierigkeiten – Wer sagt denn, dass 1 deutsches Wort mit nur 1 französischen Wort übersetzt werden soll? Wer gut übersetzt, denkt in der Zielsprache situativ. Wer für 1 Wort in der Sprache A immer nur 1 Wort in der Sprache B sucht, ist 1. kein Profi und 2. kein guter Übersetzer.

Ebenfalls knifflig sind Wörter und Wendungen, die alles und nichts und zudem noch alles Mögliche und Unmögliche bedeuten (können). Beliebtes Beispiel in der Sprachkombination FR > DE ist gérer. Il faut gérer les conflits, gérer la nervosité de cet enfant, gérer les désistements aux inscriptions … Oft passt Umgang, umgehen mit, aber leider nicht immer. Wenn der Küchentischübersetzer die im Lexikon erstgenannte Übersetzung wählt, dann fragt sich der Leser des Zieltextes womöglich, wie man die Nervosität eines Kindes verwalten kann. Vielleicht mit einer Excel-Tabelle?

Weiteres Beispiel, das in Geschäftsunterlagen häufig vorkommt: challenger les objectifs. Die Ziele wurden erreicht, prima, dann muss man sie eben höher setzen (challenger), denn nur Fortschritt bringt uns weiter. Nicht einfach in kurzen Worten wiederzugeben. Oder auch la performance – von Leistung bis Produktmerkmal ist (fast) alles drin. Und wenn wir schon dabei sind: l’excellence opérationnelle – auch sehr schön! Und: valoriser les résultats. Ha ha! Außerdem darf ich les délivrables nicht vergessen …

Zwei weitere aus dem sog. Marketingsprech nicht wegzudenkende Wörter sind erleben und Erlebnis. In manchen Werbeunterlagen kommt man kaum noch zum Durchatmen: Erlebnishungrige kommen nach Karlsruhe, man soll in einem Museum Faszination erLeben (sic), die Stadt hautnah erleben, möglichst im Erlebnisbad die wahre Freude erleben … Vor lauter Erlebnis stockt einem der Atem.

Angesichts solcher Formulierungen hilft nur eines: sich gänzlich vom Ausgangstext lösen und gedanklich in die fremdsprachliche Welt eintauchen, sich fragen, wie ein Franzose (in meinem Beispiel) das sagen würde und kontextbezogene Lösungen finden – das geht schon in Richtung Transkreation … Ein Übersetzerprofi kann das! Oder wie mein Kollege Thomas Saalfeld einmal sagte: „Das ist halt die Excellence in unserer Arbeit. Man denke nur an die Ausschüttung von Glückshormonen, wenn man eine tolle Formulierung gefunden hat, von deren komplizierter Entstehungsgeschichte der Kunde nicht die blasseste Ahnung hat. Ich empfinde daher die Übersetzertätigkeit als sprachlich schöpferische Arbeit und nicht als die Suche nach Entsprechungen, je nach Textsorte unterschiedlich ausgeprägt.“ Genau so ist es!

  1. Hallo Giselle,
    mit Genuss habe ich diesen Artikel gelesen, der Sie sicherlich viel Zeit gekostet hat. Vielen Dank dafür!

    Ich ärgere mich immer wieder, wieviel Unverständnis unserer (darf ich das in diesem Kreise sagen?) Arbeit entgegen gebracht wird. Übersetzen? Mit einem guten Wörterbuch kann das doch jeder.

    So waren meine Frau und ich einmal zu Besuch bei einem französichen Funkamateur eingeladen. Ich suchte nach der französischen Entsprechung eines deutschen Fachausdrucks und umschrieb diesen in französicher Sprache. Daraufhin schaltete sich seine Frau ein, Gymnasiallehrerin von Beruf, und fragte, warum ich nicht einfach in ein Wörterbuch schaue. Eigentlich eine Frechheit, jemandem zu unterstellen, er sei zu dumm, ein Wörterbuch zu benutzen. Damit müssen wir leben.

    Liebe Grüße
    Ihr Jürgen

    • Lieber Jürgen,
      ich freue mich aus mehrfachen Gründen, Ihre Zeilen zu lesen. 🙂
      Das Schreiben des Beitrags war kein großer Zeitaufwand: Wenn die Idee da ist, dann läuft es „wie geschmiert“, sofern ich Zeit habe, diese umzusetzen. Ideen habe ich viele auf meiner Liste, allein die Zeit fehlt.
      Menschen, die keine Berührungspunkte mit dem Anwenden von Fremdsprachen haben, fehlt meist das Verständnis, wie man dabei vorgeht. Sie denken in der Tat, es würde genügen, in einem Wörterbuch nachzuschlagen. Wir Profis (zu denen ich Sie zähle) wissen, dass dem nicht so ist.
      Liebe Grüße
      Giselle

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