Grenzüberschreitungen

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Grenzüberschreitungen

Beobachtungen zum Thema Respekt

Der Nachbarschaftsstreit endet mit dem totalen Bruch zwischen den Kontrahenten, an Schulen wird gemobbt, im virtuellen Austausch hagelt es Beleidigungen und verbale Angriffe, Misstrauen und Missgunst machen sich breit, Sachbeschädigungen und Gewalttaten nehmen zu. Was ist bloß los?

Fast jeder Zweite in Deutschland hat Probleme mit seinem Nachbarn, nicht selten endet der Streit vor Gericht: 2014 beauftragten 1,3 Mio. Haushalte wegen Streitigkeiten einen Anwalt. Zwischen 11,6 Mio. deutschen Haushalten herrscht regelrecht Krieg (Quelle: Stat. Bundesamt). Gerade im Sommer und im Herbst haben die Streitigkeiten Hochkonjunktur: Wenn Grilldämpfe und Gartenpartys vorbei sind, stören Laub, Laubsauger und Häcksler, bisweilen auch die blinkende Weihnachtsbeleuchtung. Während man andernorts miteinander redet und sich gegenseitig einlädt – ist der Nachbar beim Grillfest dabei, können ihn Lärm und Gerüche nicht stören – ruft man hierzulande gleich die Polizei, wenn es zu laut wird, und bis sie kommt, beleidigt man sich gegenseitig oder prügelt aufeinander ein. Grenzüberschreitungen …

An Schulen wird gemobbt, was das Zeug hält: In „harmlosen“ Fällen werden Mitschüler „nur“ gehänselt, was allerdings für die Kinder und Jugendlichen schlimm ist. Erschreckend oft kommt es zu Handgreiflichkeiten oder sogar zu Quälereien (z. B. mit ausgedrückten Zigaretten, wie mir eine besorgte Mutter berichtete), Kleidungsstücke werden zerrissen, die teuren Markenklamotten und Handys gestohlen. Auch Lehrkräfte werden nicht verschont: Das Cyber-Mobbing greift um sich. Grenzüberschreitungen …

Vor ein paar Tagen hieß es in den Regionalnachrichten, die Autobahnkirche St. Christophorus zwischen den Anschlussstellen Raststatt und Baden-Baden der A5 sei geschändet worden. Da fehlen einem die Worte. Grenzüberschreitungen …

Social media sind sehr beliebt. Man lernt eine Menge Leute kennen – na ja, zumindest virtuell – und hat praktisch ständig jemanden zum „Quatschen“: Ob über Privates oder Berufliches, irgendjemand aus dem virtuellen Freundeskreis ist immer online. In den Fachforen werden Tipps und Erfahrungen ausgetauscht, das ist prima, bis … hoppla, bis sich jemand auf den Schlips getreten fühlt. Oder nicht den Kommentar bekommt, den er mit seinem Post erwartet, nein, erhofft hatte. Oder die Kommentare nicht sorgfältig liest. Denn: Kommentare richtig lesen, das ist wie richtig zuhören, wenn man sich von Angesicht zu Angesicht unterhält. Erfahrungsgemäß wird nur noch quergelesen, das „Nein“ sticht ins Auge, das „meiner Meinung nach“ wird geflissentlich überlesen, selbst wenn es als Abkürzung IMO (in my opinion) in Großbuchstaben daherkommt, und schon geht es los. Es hagelt Vorwürfe, Argumente aus der Schublade „unter der Gürtellinie“ werden hervorgeholt. Es dauert nicht lange, und die erste Beleidigung steht da. Grenzüberschreitungen …

Freunde sind Seelenverwandte und verstehen sich. Oft auch ohne viele Worte. Sie können einander alles sagen. Manchmal haben sie tage- oder monatelang keinen Kontakt, und wenn sie sich wieder sehen oder sprechen, ist es, als hätten sie sich erst gestern getrennt. Sie erspüren instintiv, wo die Grenze liegt, die nicht überschritten werden sollte. Und wenn sie aus irgendeinem Grund doch passiert werden muss, dann tasten sie sich behutsam voran. Hin und wieder entsteht eine solche Beziehung auch zwischen zwei Menschen, die zum Beispiel einander nur virtuell kennen oder deren Zusammenkommen beispielsweise geschäftlich begründet ist. So verbindet mich mit einigen wenigen Kunden und virtuell entstandenen Bekanntschaften eine „ganz besondere“ Beziehung. Inzwischen hat man einander auch persönlich kennen gelernt und festgestellt, dass man aus dem gleichen Holz ist, Antennen für die gleichen Dinge besitzt, ein paar ähnliche Denk- und Handlungsmuster hat … Grenzüberschreitungen gibt es da nicht, und doch akzeptiert man gegenseitig das offene Wort.

In einer anderen Fraktion tummeln sich diejenigen, die auf den ersten Blick die eine oder andere Parallele zum eigenen Leben oder zu eigenen Mustern aufweisen, auch wenn sie menschlich sehr unterschiedlich gestrickt sind, die fröhlich-jovial mit einem kommunizieren, bis sie einen vor den Kopf stoßen. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einer fröhlichen Runde mit Bekannten, und einer sagt, er mag den Schauspieler XY oder die Schriftstellerin ZX oder ihm sei sein Glaube wichtig. Legen Sie dann gleich aggressiv los und behaupten, XY oder ZZ sei ein arrogantes A*** oder gläubige Menschen seien Idioten? Wohl kaum. Das nenne ich „vor den Kopf stoßen“, nichts anderes als schlechtes Benehmen. Grenzüberschreitungen …

Entschuldigung

Schon Elton John sang vor Jahren: „Sorry seems to be the hardest word“. Allerdings ist mir in Großbritannien aufgefallen, dass man zig Mal am Tag das Wort „sorry“ hört. Das gleiche in Österreich, Italien und auch in Frankreich. Rempelt der eine den anderen aus Versehen auf der Straße an, sagt der Angerempelte „Excusez-moi“. In Deutschland? Niemals. Da hört man bestenfalls „Na, passen Sie doch auf!“. Selbst wenn sich jemand in den social media (und ich spreche immer noch von Fachforen) im Ton und/oder in der Wortwahl vergriffen hat, wird nur selten der Satz „ich entschuldige mich“ geschrieben. Und wenn, dann folgt gleich ein Nachtreten „aber du hast mich ja provoziert“, auch wenn das falsch ist (und selbst wenn), Hauptsache, man hat dafür gesorgt, dass einem kein Zacken aus der Krone fällt. Grenzüberschreitungen …

Da wird jemand zu Unrecht verdächtigt, aber der Verdachtsäußerer schafft es selbst im dualen Mailverkehr nicht, sich zu entschuldigen. Allenfalls fällt ein „sorry“, was in einem deutschen Satz längst nicht dasselbe ist wie „ich möchte mich bei dir / bei Ihnen entschuldigen“. Das Problem? Mangelnde Charaktergröße und verletzter Stolz, weil man mit dem vorschnellen, wutentbrannt geäußerten Verdacht doch nicht richtig lag, der Wunsch, doch noch nachzutreten, geschmückt mit fadenscheinigen Argumenten, wie es überhaupt dazu kam. Grenzüberschreitungen …

Als harmoniesuchender Mensch, der „so“ erzogen wurde, gehe ich meist so weit, dass ich denjenigen, der sich eigentlich bei mir entschuldigen müsste oder sollte (oder könnte, wenn er denn könnte und wollte), anspreche, dass ich also die Hand ausstrecke. Meistens geht das gut, und nach dem Einsatz des berühmten Schwamms, der Vergangenes wegputzt und den Weg für Neues frei macht, entsteht dann eine gute Beziehung. Was aber, wenn das Gegenüber ein Mensch ist, der von sich und seinem Handeln überzeugt ist? Wie soll jemand, der mit einer negativen Einstellung in die Welt blickt, etwas anderes von der Welt erwarten und bekommen (Stichwort Rousseau)? Ein solcher Mensch denkt: „Ganz sicher führt doch jemand, dem kräftig ans Bein gepinkelt und der entsprechend zurechtgeschraubt wurde, etwas im Schilde, wenn er den ersten Schritt macht, das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen“. Was geschieht also, wenn einem solchen Menschen die Friedenspfeife gereicht wird? Entweder gar nichts, oder es kommt eine neue Ohrfeige. Grenzüberschreitung …

Schadenfreude und gar keine Freude

Weder in der englischen noch in der französischen Sprache gibt es ein Wort für „Schadenfreude“. Zugegeben: Sicher kommt dieser „Zustand“ auch in Großbritannien und Frankreich mal vor. Flagrant ist allerdings, dass man sich hierzulande nicht so bereitwillig für andere freuen kann. Da postet jemand, er freue sich wie Bolle, weil er endlich einen guten Preis beim Kunden hat durchsetzen können. Eine Handvoll KollegInnen gratulieren, bis der erste Miesepeter zunächst nach dem durchgesetzten Preis fragt und dann entrüstet beklagt, dass dies unverschämt sei, weil andere dies nicht schaffen würden. Und die andere schlagen in die gleiche Kerbe. Grenzüberschreitungen …

Bestimmt kennen Sie diese Geschichte, deren Verfasser sich mir trotz Recherchen nicht erschließen konnte:

Ein alter Mann saß vor den Toren einer Stadt. Alle Menschen, die in die Stadt gingen, kamen an ihm vorbei. Ein Fremder blieb stehen und fragte den alten Mann: „Du kannst mir sicher sagen, wie die Menschen hier sind?“ Der Alte sah ihn freundlich an: „Wie waren sie dort, wo du zuletzt warst?“ „Freundlich, hilfsbereit und großzügig. Sehr angenehme Menschen.“, antwortete der Fremde. „Genau so sind sie auch in dieser Stadt!“ Das freute den Fremden, und mit einem Lächeln ging er durch das Stadttor.

Die Geschichte geht noch weiter und behandelt dann noch den umgekehrten Fall. Einer meiner ehemaligen Chefs pflegte zu sagen: „Ein jeder überträgt das auf die Menschen und sein Umfeld, was er als Vorstellung in seinem Kopf hat“. Mich erinnert das an Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), der folgendes Menschenbild zeichnete, das ich überhaupt nicht teilen kann:

Die Menschen sind böse; eine traurige und fortdauernde Erfahrung erübrigt den Beweis; jedoch, der Mensch ist von Natur aus gut, ich glaube, es nachgewiesen zu haben; […] Man bewundere die menschliche Gesellschaft, soviel man will, es wird deshalb nicht weniger wahr sein, dass sie die Menschen notwendigerweise dazu bringt, sich in dem Maße zu hassen, in dem ihre Interessen sich kreuzen, außerdem sich wechselseitig scheinbare Dienste zu erweisen und in Wirklichkeit sich alle vorstellbaren Übel zuzufügen.
Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (Reclam, 1998, S. 115 ff., Anmerkung IX)

Wie kommt es, dass Menschen vielfach nicht mehr „wissen“ (wollen?), wie ein respektvoller Umgang miteinander auszusehen hat? Warum ist die Hemmschwelle zu Gewalt mit Worten oder Fäusten immer niedriger? Warum sind diese Grenzüberschreitungen an der Tagesordnung? Und nicht nur das: Warum sind Menschen so nachtragend und warum schaffen sie es vielfach nicht, einander zu versöhnen und zu vertragen? Eine Antwort darauf habe ich nicht. Haben Sie eine?

 

  1. Liebe Frau Chaumien, Ihr Artikel berührt mich sehr, zumal ich weiß, wie wertschätzend und aufmerksam Sie im Umgang mit Ihrem Gegenüber sein wollen und sind. Wieso wird unsere Welt immer aggressiver? Es liegt am wenigsten am Mangel, vermutlich eher noch am Reichtum. Wer viel hat, glaubt gern, er habe viel zu verlieren.

    Wenn es jedoch um Schuldbewusstsein und emotionale Entlastung nach Entgleisungen geht, habe ich oft zwei voneinander unabhängig Muster beobachtet: 1. Abwertung folgt auf Abwertung. Menschen, die sich in ihrem Leben sehr früh abgewertet gefühlt haben, tendieren zu Neid, Schuldzuschreibungen und wiederum Abwertungen. Sie finden es daher sehr schwer, selbst Verantwortung für ihr Handeln und vor allem für ihre Gefühle zu übernehmen. Sie haben zu lange erleben müssen, dass ihre Gefühle übergangen wurden. Nachdem sie sehr früh negativ fremdbestimmt waren, erleben sie sich als machtlos und ohnmächtig. Sehen sie dann den Freiheitsgrad eines anderen, den sie als Arroganz, Willkür, Egoismus oder Autonomie und ähnliches werten, vertieft sich ihr Ohnmachtsgefühl und wird kompensiert durch unmäßige Wut, die bis zu Hass anwachsen kann. Diese heftigen Gefühle provozieren, verletzen passiv, reiben. Die einst wunde Seele ist wieder wund. Doch der Körper und der Geist haben gelernt sich zu wehren. Scharf, rachsüchtig und übergriffig. Denn mit dem Schlag werden auch die alte Last, die alten Übeltäter geschlagen. Allerdings wirkungslos.

    2. Muster: Wer sich am anderen abgeputzt hat, kann seine eigene Kleinheit oft nicht aushalten und wird zunehmend aggressiver. Innehalten, hinschauen, Schuld anerkennen und sich wieder eine gute Beziehung wünschen: Das verlangt Größe und echtes Aushalten.
    Was erwarten Sie? Ohne hier jetzt politische Vergleiche herstellen zu wollen: Viel der Grausamkeit des dritten Reiches hat damit zutun gehabt, dass Menschen gespürt haben, sie tun Unrecht. Weil sie sich selbst darin nicht ausgehalten haben, wurde Unrecht auf Unrecht gesetzt, indem sie das Opfer, den Zeugen ihrer eigenen Unmässigkeit und Ohnmacht, beseitigt haben.

    Ich kenne Ihren Anlassfall für den Artikel nicht. Doch das, was Sie schreiben, spricht von einer verletzten Seele und einem sehr tiefen Kummer auf der Seite des Handelnden. Diese Geschichte hat am wenigsten mit Ihnen zutun. Je mehr Hilfe Sie anbieten, desto mehr Zurückweisung werden Sie erfahren.

    Ziehen Sie die ausgestreckte Hand entspannt zurück. Sie wird vielleicht wirklich als weitere Bedrohung erlebt. Lassen Sie vielleicht die Zeit ihre Wirkung tun.
    Liebe Grüße
    Petra Schulte

    • Liebe Frau Schulte,
      danke für Ihre Zeilen. Die zwei Muster, die Sie beschreiben, sind ganz sicher zutreffend. Möglicherweise könnten noch weitere tiefe Ursachen für die zunehmende Herzlosigkeit und Aggressivität gefunden werden. Ganz oft steckt in Menschen, die sich so verhalten, wie ich es beschrieben habe, Frust, Enttäuschung, Neid, Unsicherheit, Unzufriedenheit … Dabei vergessen sie, welche Stärken und Reichtümer sie in ihrem Leben, in ihrem Herzen besitzen.
      Einen unmittelbaren Anlass für diesen Blogpost gibt es nicht. Der Artikel ist über viele Wochen gewachsen und wurde genährt durch die eine oder andere Schilderung besorgter Eltern von Schulkindern, durch ältere, aber auch aktuelle Nachrichten wie die der erst kürzlich geschändeten Autobahnkirche, durch Beobachtungen und nicht zuletzt durch mittelbar erlebte Begebenheiten. Dabei ist mir eines klar geworden: Die Gesellschaft verändert sich. Und die ruppigen, respektlosen Verhaltensweisen sind der Ausdruck der sich vollziehenden Veränderung. Wie Sie wissen, versuche ich stets, das Positive zu sehen, in der von mir beobachteten Entwicklung fällt es mir allerdings schwer. Aber: Nichts tun und diese gesellschaftliche Entwicklung einfach hinnehmen, würde bedeuten, dass wir sie akzeptieren und für nicht wichtig genug halten, dass wir etwas dagegen unternehmen.
      Das Thema ist (mir) zu wichtig, deshalb will ich nicht nur Zaungast sein. Viel bewirken kann ich, kann der Einzelne nicht. Ich glaube nicht oder wenig an die Kraft von Demos, Schweigemärschen und Protestkundgebungen und bin ohnehin nicht der Typ, der auf die Straße geht und ein Schild mit der Forderung „seid nett zueinander“ in die Höhe hält. Was ich tun kann? Nicht viel mehr, als auf die Problematik hinzuweisen, zum Nachdenken anzuregen und eben eine Hand auszustrecken und mit Zuversicht zu vermitteln, dass es auch „anders“ geht. Dass die ausgestreckte Hand, die versöhnlichen Worte keine Bedrohung sind, sie anzunehmen einfach nur gut tut. Dass nicht die Ellenbogenmentalität und das Ego-Gehabe uns alle weiterbringt, sondern das Miteinander (hier passt übrigens das Motto der Aktion Mensch: „Das Wir gewinnt“). Dass wir das Feuer in uns bedenkenlos teilen können, denn dadurch verliert der Einzelne nichts – im Gegenteil.
      Ja, liebe Frau Schulte, ich bin ein hoffnungsvoller Optimist und glaube an das Gute im Menschen.
      Herzliche Grüße
      Giselle Chaumien

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