Von der Gratwanderung zwischen Grundsätzen und Prinzipienreiterei
Es gibt Menschen, denen bestimmte Grundsätze wichtig sind, und solche, die auf ihren Prinzipien reiten. Wo ist die Grenze zwischen beiden Spezies? Zwischen Toleranz und Intoleranz, Offenheit und Verbohrtheit? Begleiten Sie mich bei der Beschreibung einer seltsamen, aber nicht ganz seltenen Spezies, des Reiters ohne Pferd und Sattel – des Prinzipienreiters.
Ich schätze Menschen mit Grundsätzen und Werten. Menschen, die anderen mit Respekt gegenüber treten, offen und konstruktiv auf andere zugehen und Meinungen, die von ihren eigenen abweichen, gelten lassen. Geht das immer und überall? Natürlich nicht. Es gibt sicher Situationen im Alltag, in denen man selbst oder ein anderer Gegenstand von Respektlosigkeit ist oder rüpelhaftes Verhalten beobachtet – da fällt es einem manchmal schon schwer, dem eigenen Grundsatz des respektvollen Umgangs miteinander zu folgen. Dazu bald mehr in einem separaten Blogpost.
Menschen mit Grundsätzen sind das eine, Prinzipienreiter das andere. Letztere sind Menschen, die verbohrt auf ihrer Meinung und ihrem Standpunkt beharren und keinem Argument auch nur die winzigste Chance lassen. Selbstverständlich ist es wichtig, dass wir Menschen uns über alles Mögliche ein Urteil bilden: Das dient der Orientierung, der besseren Übersicht für einen selbst und für andere, denn damit stecken wir sozusagen Meinungsclaims ab und vermitteln die Botschaft: „Das ist meine Meinung über das Thema XXX“. Das ist ein ganz wesentlicher Aspekt – nicht nur wegen der im Laufe der Geschichte hart erkämpften Meinungsfreiheit.
Es steht selbstverständlich jedem Menschen zu, eine eigene Meinung zu vertreten. Das ist in Ordnung, solange man nicht missioniert und sein Gegenüber partout dazu bringen will, die eigene Meinung als die einzig Wahre anzusehen. Sie sind Vegetarier oder Veganer? In Ordnung, solange Sie akzeptieren, dass ich mich nicht vegetarisch oder vegan ernähre, und Sie mir nicht ständig Fotos von Hühnerbatterien und gequälten Tieren auf Tiertransporten unter die Nase halten, um mir zu zeigen, was für ein schlimmer Mensch ich bin, weil ich ab und zu Fleisch esse. Sie machen gerne lange Flugreisen? Schön, ich freue mich auf die spannende Erzählung Ihrer Erlebnisse! Sie essen gerne Fisch? Ich nicht. Na und? Leben und leben lassen.
Wie traurig wäre doch eine Welt, in der alle dieselbe Meinung vertreten, die gleichen Dinge mögen würden, die gleichen Interessen hätten. Wie vielfältiger, spannender und lehrreicher ist doch das Leben, wenn Verschiedenheit und Anderssein akzeptiert werden. Richtig fruchtbar wird es, wenn Sie dem anders denkenden Gesprächspartner sagen: „Aha, so habe ich das noch gar nicht gesehen“ und einmal über seinen Standpunkt nachdenken.
Zu diesem Thema fallen mir spontan zwei Zitate ein. Zum einen die Erkenntnis des französischen Malers und Schriftstellers Francis Picabia: „Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann“. Zum anderen der oft wiederholte Hinweis von Jean-Luc Gradeck, Psychotherapeut und Experte der Gestalt-Therapie, den ich in mehreren hochkarätigen Seminaren erleben durfte: „Man kann alles sagen, aber man muss es nicht“. Zwei Aussagen, die so simpel sind, dass sie fast wie Binsenweisheiten klingen. Und dennoch werden sie tagtäglich von unzähligen Menschen ignoriert und sogar sträflich verletzt.
Prinzipenreiter sind meist keine wirklich vitalen, positiv denkenden Menschen, denn sie sind durch ihr selbst angepasstes Korsett gehemmt. Selbstverständlich behaupten sie nicht nur das Gegenteil, sie glauben auch fest daran. Und: Sie setzen alles daran, anderen ihre Meinung aufzudrücken – schon aus Prinzip. Da werden Behauptungen aufgestellt, die auf unsinnigen Verallgemeinerungen und abstrusen Projektionen fußen. Beispiel: „Ich hatte mit der Automarke Gmarpf (1) nur Pech, der Wagen war ständig in der Werkstatt .Gmarpf taugen nichts, die sollte man nicht kaufen, da hat man nur Probleme, das habe ich immer wieder gehört, das ist so, und jeder, der eine abweichende Meinung hat, ist bescheuert … Ach ja, Gmarpf-Fahrer haben ohnehin ihren Führerschein in der Lotterie gewonnen …“. Kommt Ihnen die vermeintliche Logik dieser Aussage bekannt vor? Sehr beliebt ist auch das Thema Beamter oder Lehrer: „Mein Nachbar ist Beamter, ja, Lehrer. Ha, der schiebt eine ruhige Kugel, der leistet nix, der hat nicht nur jeden Nachmittag frei, sondern andauernd Ferien. Und überhaupt: Der will mich immerzu belehren. Lehrer können nicht anders. Einmal Lehrer, immer Lehrer“. Sicher fallen Ihnen Situationen ein, in denen Sie ähnliche Aussagen zu hören oder zu lesen bekamen und in denen selbst eindeutige, vernünftige Argumente Ihr Gegenüber nicht überzeugen konnten.
Wer so stereotyp denkt, hat in seinem Kopf ein Schachbrett – und bekanntermaßen gibt es auf einem Schachbrett lediglich die Farben … weiß und schwarz. Der Prinzipienreiter ist nicht in der Lage, Meinungen anderer zu tolerieren, geschweige denn anzunehmen. Selbstverständlich erklärt er in Diskussionen früher oder später, es könne ja jeder handeln, wie er will. Er vermittelt aber gleichzeitig die Botschaft, dass anderslautende Standpunkte oder Verhaltensweisen völlig daneben sind und ausschließlich seine Ansicht die einzig Richtige ist: „Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt“. Prinzipienreiten um des Prinzipienreitens willen – oder die Unfähigkeit, offen und lernfähig durch die Welt zu wandern. Und letzten Endes genau das Gegenteil von Intelligenz.
Die Welt ist ein riesengroßer Zoo, in der viel Skurriles vorkommt – auch die Spezies Prinzipienreiter. Das ist doch in Ordnung, oder? 😉
Ach ja, wichtig: Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind unbeabsichtigt und rein zufällig.
(1) Suchen Sie nicht: Die Automarke Gmarpf gibt es nicht. 😉
Liebe Frau Chaumien,
er ist wieder fein, Ihr Blog-Artikel.
Der Satz, der mich am meisten „gerissen“ hat (österr. für plötzlich beeindruckt, überrascht), ist dieser: Prinzipenreiter sind meist keine wirklich vitalen, positiv denkenden Menschen, denn sie sind durch ihr selbst angepasstes Korsett gehemmt. …keine wirklich vitalen, positiv denkende Menschen…
Mit ihrer durch das Korsett gezügelten Energie möchten manche von ihnen auch andere zügeln, ihnen ihre Energien nehmen oder sie zumindest umlenken.
Bin ich in meiner Interpretation zu großzügig, wenn mir Ihre Prinzipienreiter sogar an manchen Stellen als Energieräuber begegnet sind?
Der Prinzipienreiter könnte ja noch als stolzer Knappe auf dem hohen Ross Prinzip daher kommen. Wenn er uns dann im Busch auflauert und uns unserer Energie beraubt, ohne selbst davon vitaler zu werden, sollte wenigstens mir ab jetzt ein Gegenmittel dazu einfallen.
Darüber werde ich noch eine Weile nachdenken.
Danke für die schöne Geschichte. Sie lädt zum Verweilen ein.
Petra Schulte
Ganz herzlichen Dank für Ihr Lob, liebe Frau Schulte.
Ja, er sitzt wohl auf seinem hohen Ross, der Prinzipienreiter, und merkt nicht, dass er sich so manches Mal vergaloppiert.