Eine Frage der Zeit

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Eine Frage der Zeit

Schnell oder langsam, wie vergeht die Zeit?

Kennen Sie das? Die Wurzelbehandlung scheint kein Ende zu nehmen, auch unter örtlicher Betäubung dauert die Zahnfüllung „Ewigkeiten“. Dagegen sind schöne Urlaubstage oder ein netter Abend mit Freunden flugs vorbei. Was ist dran am unterschiedlichen Zeitempfinden? Gedanken quer Beet …

Mit der Zeit ist das so eine Sache. Die einen sind immer überpünktlich, die anderen unpünktlich, die einen halten sich für multitaskingfähig, während die anderen stets nur eines nach dem anderen erledigen können.

Wir alle kennen das Gefühl beim Zahnarzt, wo die Minuten nicht enden wollen, oder während des ersehnten Abends zu zweit, der viel zu schnell vorbei ist. Das ist das situative Zeitempfinden, auch situative Wahrnehmung von Zeit genannt, wobei dies auch individuell unterschiedlich sein kann: Was für den einen eine spannende und viel zu kurze Vernissage ist, kann für den anderen, der vielleicht nur jemanden begleitet, ein langweiliger Abend sein. Alles relativ … und abhängig vom jeweiligen „Inhalt“ des Geschehens.

Interessant ist im Zusammenhang mit dem Thema Zeit die Betrachtung von monochronen und polychronen Kulturen, denn der Umgang der Menschen mit der Zeit ist nicht überall rund um den Globus gleich. In polychronen Kulturen spielt Zeit nur eine untergeordnete Rolle, während in monochronen Kulturen Termine und Verabredungen exakt eingehalten werden, wobei es sich bei Monochronismus und Polychronismus – ähnlich wie bei non-verbaler Kommunikation und Körpersprache – nicht um eine direkte kulturelle Dimension, sondern um eine Reihe von Verhaltensweisen handelt.

In monochronen Kulturen ist Zeit eine Ressource, die gut verwaltet werden muss, denn sie kann durchaus knapp werden, sie rinnt einem quasi durch die Finger. Monochron geprägte Menschen wollen keine Zeit verlieren, sondern Zeit gewinnen, sie wollen Zeit sparen und sie optimal nutzen. Der Terminkalender wird akribisch geführt und eingehalten, am Jahresende wird anhand eines Zeitstrahls die vollzogene Entwicklung festgehalten, umgesetzte Projekte werden wie Perlen auf einer Kette entlang dem Zeitverlauf aufgereiht. Und ja: Für monochrone Menschen ist Zeit Geld, deshalb ist Pünktlichkeit wichtig und Unpünktlichkeit der Gipfel der Unhöflichkeit, denn schließlich vergeudet man ja die kostbare Zeit des anderen.

Polychron veranlagte Menschen dagegen leben in der Zeit, im Jetzt und Hier, weil für sie Zeit als vorgegebenes Element der Natur nicht beeinflussbar, nicht planbar, nicht einzusparen und nicht zu verlieren ist. Denn eine Stunde ist eine Stunde ist eine Stunde. Aufgaben werden priorisiert und entsprechend abgearbeitet, nicht selten (vermeintlich) gleichzeitig, zumindest parallel, d.h. mehrere Prozesse finden zur gleichen Zeit statt. Aus der Sicht polychroner Menschen haben alle „genug“ Zeit. Deshalb müssen Verabredungen auch nicht so superpünktlich eingehalten werden.

Na, haben Sie sich in den zugegebenermaßen stark verallgemeinernden Kurzbeschreibungen wiedergefunden? Zu welcher Kategorie fühlen Sie sich (eher) zugehörig?

Die meisten Kulturen der Erde sind eher polychron. Zu den polychron geprägten Regionen oder Kulturen zählen Afrika, der arabische Kulturkreis, Spanien, Italien und natürlich Frankreich. Beispiele für monochron geprägte Länder sind Australien, die USA, Kanada, die skandinavischen Länder, Großbritannien … und Deutschland. Dass die Tendenz zum monochronistischen Zeitverständnis in Nordeuropa stärker als in Südeuropa ausgeprägt ist, soll, so heißt es in der Fachliteratur (z.B. Turner), damit zusammenhängen, dass die Tage im Norden kürzer sind und die Zeit daher straffer einzuteilen und zu nutzen sei. Daher frage ich mich, ob wir in der sog. Sommerzeit „anders“ als in der Winterzeit, der eigentlichen „normalen“ Zeit, mit Zeit umgehen?

Redewendungen und Sprichwörter belegen die Zugehörigkeit zur unterschiedlichen Zeitwahrnehmung, zum Beispiel:

  • Time is money. (USA, Großbritannien)
  • Those who rush arrive first at the grave. (Spanien)
  • The clock did not invent man. (Nigeria)

Übrigens: Selbstverständlich sind unterschiedliche Kulturen nicht immer ganz eindeutig als monochron oder polychron einzuordnen, und auch nicht jeder Angehörige eines polychronen Landes ist auch zu 100 % polychron. Das wäre ja zu einfach. Auch haben sich bei den jüngeren Generationen Zeitempfinden und Umgang mit der Zeit gerade im Privatleben stark verändert. Im Arbeitsleben, insbesondere in größeren Unternehmen, ist die Tendenz zu monochronistischer oder polychronistischer Einstellung allerdings meist noch relativ stark zu spüren.

Umgang mit Zeit – ein ideales Thema, um einmal mehr aus meinem bikulturellen Nähkästchen zu plaudern. Wie in Frankreich Meetings ablaufen und was dabei eine Rolle spielt, hatte ich bereits vor einiger Zeit hier beschrieben. Während in Deutschland zeitliche Vorgaben wie Verabredungen, Abgabetermine für Arbeitsergebnisse usw. als verbindlich betrachtet werden und, wenn überhaupt, nur schwer veränderbar sind, sind Franzosen eher „zeitlich flexibel“.  Wenn Sie in Frankreich um 20 Uhr  zum Geschäftsessen eingeladen sind, dürfen Sie niemals pünktlich antreten, Sie wären mit Sicherheit der oder die Erste. Auch wenn Deutsche zügiges Arbeiten und  Reagieren auf Anfragen generell als positiv empfinden, gilt es in Deutschland als unhöflich, dem anderen im Gespräch ins Wort zu fallen. In Frankreich ist das eher kein Problem. In Fernsehsendungen, in denen sich beispielsweise Fachleute in Gesprächsrunden zu einem bestimmten Thema austauschen, reden meist alle durcheinander. Das können Sie auch im Restaurant beobachten: Sitzen mehr als drei Personen an einem Tisch, entsteht bald das, was ein Deutscher als unerträgliche Kakophonie bezeichnen würde. In Deutschland sind  Überschneidungen ebenso wie längere Denkpausen während eines Gesprächs unerwünscht.

Bei Projekten oder Problemlösungen ist die unterschiedliche Arbeitsweise am auffälligsten. Deutsche arbeiten nach der Methode: Wir haben ein Problem, wir analysieren die Ursachen (einschl. einer systematischen Bestandsaufnahme), wir erarbeiten Lösungsmöglichkeiten, bewerten sie, entscheiden uns für eine Lösung, definieren den Aktionsplan „Wer macht was wann?“ – und es geht mit der streng linearen Umsetzung des Plans mit fast militärischer Genauigkeit los. Nicht selten – wenn jemand einwirft, man habe dies oder jenes nicht beachtet – heißt es mitten in der Umsetzung: „Jetzt haben wir uns für diese Lösung entschieden, und dabei bleibt es“.

Franzosen werden im Schul- und Hochschulsystem überwiegend monochronistisch sozialisiert, verhalten sich aber im täglichen Leben weitgehend polychronistisch (E.T. Hall), so dass sie in der Theorie zunächst monochronistisch an die Sache herangehen, jedoch nach polychronistischer Auffassung handeln: Selbstverständlich analysieren auch sie die Ursachen des Problems, erarbeiten Lösungen und entscheiden sich für eine Lösung. Aber eine einmal gefällte Entscheidung ist für sie nicht in Stein gemeißelt, bei jeder Projektbesprechung während der Umsetzung der „eigentlich“ gewählten Entscheidung fallen ihnen neue Ideen ein,  ungeachtet dessen, ob die verabschiedete Planung dadurch hinfällig wird bzw. angepasst werden muss. Die Arbeitsschritte werden nicht einzeln und linear abgearbeitet, sondern laufen durchaus gleichzeitig ab. Und neue Ideen sind kreative Verbesserungsmöglichkeiten, die einem übergeordneten Ziel dienen: dem Erfolg des Projekts.

Dass  die Arbeitsweise der Franzosen, die eine Konzeptplanung quasi nie als abgeschlossen, sondern als „kontinuierlichen Prozess“ ansehen, die Deutschen, für die die Entscheidung für eine Lösung eine nahezu unumstößliche Abmachung darstellt, irritiert und mindestens Unstimmigkeiten, manchmal auch handfeste Konflikte mit sich bringt, ist nicht verwunderlich. Um dies zu vermeiden, hilft nur eines: Verständnis für „den anderen“ aufbringen und Zugeständnisse machen – und nicht alles auf die Waagschale legen.

  1. Wie wahr & doch leider bei vielen Mitbürgern sooo unbekannt…
    Hab mich schon mein ganzes 63 Jahre altes Leben dahingehend missverstanden gefühlt….wollte nie unhöflich mit der Zeit der anderen umgehen, die es aber oft so interpretiert haben, leider….Daher hab ich jetzt diesen versöhnlichen Artikel einfach mal rundgeschickt für mehr Toleranz & Verständnis….Vielen Dank dafür!
    MfG

  2. Liebe Giselle Chaumien,

    es macht immer wieder Spaß, Ihre Artikel zu lesen! Ad hoc fällt mir noch eine weitere Ergänzung ein, wie unterschiedlich ich die Zeit in meinem Leben erfahren habe und erfahre. Als Kind dauerte alles furchtbar lang: die nächsten Ferien, der nächste Geburtstag etc. Heute (mit nunmehr 49 Jahren) habe ich immer mehr den Eindruck, dass ich noch mindestens einen weiteren Wochentag Zeit bräuchte, um all das umsetzen zu können, was ich mir vorgenommen habe. Da es diesen dringend benötigten zusätzlichen Wochentag aber leider nicht gibt, habe ich ständig Zeitdruck. Mich würde interessieren, ob es anderen auch so ähnlich geht und was sie konkret tun, um wieder „mehr Zeit“ zu haben.

    Ich wünsche Ihnen und all Ihren Abonnenten „ausreichend Zeit“, für Arbeit und Freizeit!

    • Liebe Karen,
      herzlichen Dank für Ihre netten Zeilen.
      Ja, stimmt, als Kind wartete ich immer mit großer Spannung auf meinen nächsten Geburtstag oder Weihnachten. Und auf das Ende der Schulferien, weil ich so gerne in die Schule ging.
      Und heute geht es mir wie Ihnen: Kaum ist Montag früh, auf den ich mich immer freue, dann fliegt auch schon die ganze Woche an einem vorbei. Ich mache eine ganze Menge Dinge „gleichzeitig“ – na ja, eigentlich nicht wirklich gleichzeitig, aber fast, also sagen wir: parallel.
      Liebe Grüße

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