Urlaub wird abgeschafft

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Urlaub wird abgeschafft

Braucht der Mensch Urlaub? Was ist eigentlich Urlaub?

Allenthalben freuen sich Hinz und Kunz auf ihren bevorstehenden Urlaub. Urlaub? Tss, tss, was soll das denn? Urlaub braucht kein Mensch, Urlaub ist so überflüssig wie ein Kropf, Urlaub gehört abgeschafft.

Herr Bingleichweg redet schon seit sechs Wochen nur noch über seinen bevorstehenden Urlaub. DomRep, da wollte er schon immer hin, auch wenn er eigentlich nicht so richtig weiß, wo das ist. Schon lange vor Weihnachten hat er die Kataloge gewälzt und selbstredend den Frühbucherrabatt für Kind und Kegel in Anspruch genommen. Am Samstag Morgen soll es losgehen, gepackt hat er schon. Am Freitag im Büro kann er sich schon gar nicht mehr konzentrieren. Nach Feierabend flitzt er nach Hause, mäht noch schnell den Rasen, und seine Frau putzt noch einmal das ganze Haus – schließlich soll ja alles ordentlich sein, während sie weg sind. Völlig erschöpft fallen sie kurz vor Mitternacht ins Bett, um 3 Stunden später schon wieder aufzustehen – sie müssen ja pünktlich am Flughafen sein. Auf der Fahrt zum Flughafen mit dem Transferbus quengeln die Kinder. Sie sind müde und fragen immer wieder: „Wo ist denn DomRep? Warum müssen wir dorthin? Gibt es dort auch einen Strand? Verstehen uns dort die anderen Kinder? Gibt es dort auch Gummibärchen? Und Pommes?“ Bis Familie Bingleichweg schließlich im Flieger sitzt,  müssen die Kinder beide zweimal pipi machen, dann werden die Pässe fieberhaft gesucht, die Oma ruft noch einmal an, um zu fragen, wann sie zurückkommen … Nach zehn Stunden Flug – 10 Stunden! – und eine Stunde Wartezeit, bis sie ihr Gepäck zurückbekommen, sind noch zwei Stunden Transfer durchzustehen – davon hat die Tussi im Reisebüro aber nichts gesagt gehabt. Die Kinder sind inzwischen unausstehlich. Die 14 Tage verbringt Familie Bingleichweg in einer Art Reservat, abgeschirmt vom wirklichen Leben in der Dominikanischen Republik. Schließlich will man ja im wohlverdienten Urlaub nichts von Armut sehen. Jeden Tag Buffet …Schnitzel Wiener Art und Spaghetti gibt es immer im Angebot. Ist das Urlaub? Erholung? Wohl kaum. Urlaub gehört abgeschafft.

Johnny Bollermann freut sich wie Bolle auf Mallorca. Zwei Wochen „all inclusive“ für 349 Euro. Im 3-Sterne-Hotel, das findet er spitze. D-R-E-I  Sterne! Johnny Bollermann ist jung und Single, den Vorflugstress verkraftet er locker. Schließlich hat er sich auch die letzten fünf Arbeitstage vor Urlaubsantritt etwas geschont – man will ja im Urlaub fit sein. Am Urlaubsort angekommen, stellt er fest, dass sein Hotel ein riesiger Betonblock ist, die versprochene Strandnähe ist relativ zu sehen: 400 Zimmer à 10 m², die er sich mit Kakerlaken teilen muss, 2 Kilometer vom Strand entfernt. Egal. Jetzt wird Urlaub gemacht. Halli Galli von mittags bis spät in die Nacht, es wird gefeiert, was das Zeug hält. Braun werden muss er auch noch – schließlich sollen die Kollegen ja sehen, dass er in Urlaub war. Dass es allerdings nur zum fetten Sonnenbrand gereicht hat, ist ärgerlich. Stündlich werden Selfies in Facebook gepostet, auch das Twittern nimmt kein Ende. Der Rückflug am Sonntag Abend hat Verspätung, bis zur Frühschicht am Montagmorgen hat er immerhin noch 3 Stunden Schlaf. Macht nichts, dann ruht er sich eben die ersten paar Arbeitstage noch aus. Pech für den Arbeitgeber. Urlaub gehört abgeschafft.

Von allen europäischen Ländern hat Deutschland die meisten Urlaubstage: In der Industrie sind es in der Regel 30 Arbeitstage, das sind sechs ganze Wochen. 1960 haben die Menschen in Deutschland noch 46 Stunden in der Woche gearbeitet und hatten zwei ganze Wochen Urlaub. Burnout? Das gab‘s nicht. Dafür hatte man keine Zeit. Gearbeitet wurde vielfach härter als heute: Opa Karl hat Dampfkessel noch von Hand zusammen genietet, Oma Elisabeth von früh bis spät eine Reparaturschneiderei betrieben und sich dabei die Augen kaputtgemacht, Schwiegermutter Elfriede ellenlange Berichte in fünffacher Ausfertigung mit Kohle- und Durchschlagpapier auf einer mechanischen Schreibmaschine getippt… Den Weg zur Arbeitsstätte und zurück bewältigte man zu Fuß, per Bus, Straßenbahn oder Fahrrad – an ein Auto war nicht zu denken. Samstags um 14:00 Uhr war die Arbeitswoche zu Ende. Dann wurden alle die Dinge erledigt, für die man unter der Woche keine Zeit gehabt hat. Und man musste das Obst und Gemüse aus dem Garten verarbeiten, einkochen, einmachen – alles für den Winter. Urlaub? An Urlaub war auch nicht zu denken. Man fuhr höchstens mal 3-4 Tage in den Schwarzwald oder in die Eifel – zu Verwandten natürlich.

Ja, werden viele sagen – das war ja früher, wir leben doch heute in einer anderen Zeit. Zeit für einen kleinen Exkurs: Ich habe 1979 angefangen zu arbeiten, nachdem ich ein anstrengendes Studium erfolgreich hinter mich gebracht hatte. Anstrengend war es nicht wegen der Inhalte oder der Prüfungen, sondern weil ich mir meinen Lebensunterhalt selbst verdienen musste. Und das war in einem kleinen Städtchen wie Germersheim nicht einfach. Aber dazu irgendwann mehr. 1979 trat ich meine erste unbefristete Arbeitsstelle an und war voller Elan. Im Laufe der 28 Jahre bei Michelin habe ich unendlich viel gelernt, eine ganze Reihe unterschiedlicher Aufgaben zu bewältigen gehabt. Es war nicht immer einfach – aber „einfach“ war nie mein Anspruch. Interessant sollte es sein – und das war es. Spannend und abwechslungsreich. Und dennoch habe ich während dieser 28 Jahre immer nebenberuflich freiberuflich gearbeitet – natürlich mit Genehmigung meines Arbeitgebers. Mein Ziel: Mir eine Stammkundschaft im Bereich Übersetzungen, Coaching und Beratung aufzubauen. Nach mindestens (damals tarifvertraglich geregelten) acht oder auch neun Stunden Arbeit in der Firma habe ich abends noch 3-4 Stunden an meinen Aufträgen gesessen. Anfang der 1980er Jahre gab es sehr rudimentäre PC, aber kein Internet, kein Mail. Die Übersetzungen wurden auf einem recht lauten Tintenstrahldrucker ausgedruckt und mit der Schneckenpost an den Auftraggeber geschickt. Ab Ende der 1980er wurden mir Führungsfunktionen übertragen – Aufbau der Übersetzungsabteilung, Medienpädagogik, Interne Kommunikation … – Da kamen oft mehr als 9 Stunden Arbeit im Büro zusammen, insbesondere als ich dann ab etwa Mitte der 1990er Jahre immer öfter auf Dienstreise war. Dennoch habe ich meine Stammkundschaft weiter gepflegt und ausgebaut. Auch am Wochenende … und während der sechs Urlaubswochen. Wobei wir wieder beim Thema wären: Urlaub – in dem Sinne, wie die allermeisten dieses Wort verstehen – gab es viele Jahre nicht für mich. 1985 mal 14 Tage im Médoc und ab 1990 jedes Jahr eine Woche im Engadin. Kaum mehr. Das war’s. Viele werden mich für verrückt halten. Auch gut. Aber ich vermisste nichts – damals nicht und heute nicht. Schließlich muss es, wie ich einmal in einer BBC-Reportage gelernt habe, die „Entdecker“ geben, die auf Reisen gehen und die Welt kennen lernen, und die „Haushüter“, die dafür sorgen, dass es den Entdeckern an nichts mangelt, wenn sie zurück kommen. Und ich gehöre eindeutig zur zweiten Kategorie. Ganz abgesehen davon, dass mich mein Lebensweg dort hingeführt hat, wo ich heute bin.

Der Mensch muss sich an dem Tag erholen, an dem er sich müde gearbeitet hat. So hat es die Natur vorgesehen. Urlaub als Synonym für eine kreative Auszeit, in der Kraft für neue Dinge geschöpft wird, ist hin und wieder sicher nicht verkehrt. Wenn Urlaub jedoch zu Stress ausartet, weil schon die Fahrt zum Urlaubsort wegen eines kilometerlangen Staus in der Gluthitze zur Tortur wird, am Urlaubsort der Wecker um 6:00 Uhr klingelt, damit einer die Sonnenliegen mit Handtüchern belegt, und das Frühstücksbuffet spätestens um 8 gestürmt werden muss, ein ganzes Land in acht Tagen abgeklappert wird, damit man auch in der kurzen Zeit viel gesehen hat, ja, wenn der Urlauber aus seinem Urlaub müde, d.h. eigentlich urlaubsreif zurückkommt – dann ist das Ganze für mich nicht nur Unsinn, sondern auch Irrsinn. Deshalb: Urlaub gehört abgeschafft. Und übrigens: „Wer zu Hause bleibt, bekommt kein Heimweh“, so Falko Löffler. In diesem Sinne: Ich wünsche Euch allen einen schönen kreativen und lustigen Urlaub. Kommt gesund und fit zurück. 🙂

Buchtipp: Bin ich blöd und fahr in Urlaub? Falko Löffler, Goldmann Verlag. ISBN: 978-3-442-15819-5, Preis: € 8,99 [D], € 9,30 [A] und CHF 13,50

 

  1. Liebe Giselle,

    Mein bester Urlaub? Die Kinder sind aus dem Haus und wir reisen jetzt alleine. Wir mögen lange Autofahrten und so haben wir uns 2016 beschlossen nach Californien (etwa 5200 Meilen Rundfahrt) zu fahren, um dort eine Woche bei lieben Verwandten zu verbringen. Und weil es uns so gut gefallen hat, haben wir es 2017 wiederholt. Diesmal mit Zwischenstopp in Colorado für eine Übersetzerkonferenz.

    Herzliche Grüße
    Heike

    P.S.: Deine humvorvollen Blogpost in ein Buch gepackt – das wäre Klasse!

    • Wunderbar, liebe Heike, so soll es sein. Das Schönste ist, wenn man es für sich selbst aussuchen und gestalten kann, wie man es mag.
      Ein Buch? Gute Idee! Stoff hätte ich genug.
      Liebe Grüße
      Giselle

  2. Ein fabelhafter Beitrag der Inspiriert.

    „Wer sich bei der Arbeit erwischen sollte sofort alles liegen und fallen lassen und wieder zur Vernunft kommen“

    Wieviel Stunden bemühen wir uns statt zu leben ?

    Freude, Motivation und Umsetzung macht Arbeit zum Urlaub.

  3. Die dritte und vierte Variante des Reisens, in denen Urlaub mitschwingt, hast Du vergessen, chère Giselle. Die erste ist die der „Entdecker“, die in völlig neue Gefilde aufbrechen, nicht per Charterflug mit einer Ferienanlage als Ziel, sondern die mit dem Fahrrad an der Elbe von Hamburg nach Dresden radeln, die einen Monat lang in einem Altenheim (vielleicht im Ausland) Konversationsstunden halten und bei der Ergotherapie assistieren, oder nach einer Woche Festival in Nordchina noch zwei Wochen auf eigene Faust weiterreisen oder im Heimatland eine erkrankte oder außerhalb berufstätige Mutter in ihren Pflichten ersetzen. Das Stichwort heißt: Radikaler Tapetenwechsel, eine andere Form des Lebens ausprobieren, den Alltag der anderen kennenlernen.

    Was sehr stark dabei hilft, die Gestaltung des eigenen zu überdenken und nach der Rückkehr frisch wieder ans Werk zu gehen.

    Die zweite Form läuft auch über den Alltag, hier wird im angestammten Beruf gewirkt, nur die Umgebung radikal gewechselt. Zum Beispiel zehn Tage lang für eine Studiengruppe im Ausland dolmetschen … und dann etliche Tage/Wochen vor Ort bleiben. Ich weiß, dass das nicht jeder kann. Aber Ärzte und Erzieher haben diese Möglichkeit, sofern sie Fremdsprachen beherrschen. Welche Berufe noch? Wir Dolmetscher sind auch in der glücklichen Lage. Ich liebe diese Art von „Reisen“, vor allem dann, wenn sie mich mit einer gewissen Regelmäßigkeit an besondere Orte führen. (Beispiel Marseille: http://dolmetscher-berlin.blogspot.de/2009/07/dolmetschmarathon.html)

    Das ist meine Form des Urlaubens. Mit Pauschaltourismus kann ich auch nichts anfangen. Oder aber zuhause Gäste empfangen und mit ihnen die Stadt besichtigen. Das wäre dann schon die fünfte Variante …

    • Ich bin davon überzeugt, liebe Caroline, dass es noch viele weitere Varianten gibt, die einem eine wunderbare Zeit erleben lässt. Mein Beitrag sollte ja auch eher die Gleichgesinnten des Herrn Bingleichweg oder Johnny Bollermann zum Nachdenken anregen. 🙂
      Der Tapetenwechsel, ob radikal oder gemäßigt, entspricht „meiner“ kreativen Auszeit, die nur fruchtbar sein kann. Und die 2. Form, die du beschreibst, ist dann doch eher Arbeiten. Gäste empfangen usw. fällt für mich auch in die kreative Auszeit – allerdings zu Hause. Und da fällt einem ggf. auch wieder das eine oder andere Staubkörnchen oder Unkräutlein auf, das entfernt werden „muss“ …

  4. Ich glaube, da funktionieren die Menschen einfach unterschiedlich. Die von dir beschriebenen Pauschalurlaube sind mein Ding auch nicht, aber als ich vor einigen Jahren im Sommer mal keine längere Pause einlegen konnte, merkte ich im September deutlich, wie dringend ich sie gebraucht hätte. „Kreative Auszeit“ ist genau das richtige Stichwort – ich brauche einfach Zeit am Stück, in der ich viel lesen, denken und am besten in einen Fluss starren kann. Damit ich einen Gedanken auch mal zu Ende gedacht bekomme, bevor ich von der nächsten anstehenden Aufgabe zu Hause unterbrochen werde. Damit der Gedanke zu mir kommen kann, wann immer er will, und nicht dann, wenn ich mir dafür mal eine halbe Stunde Zeit genommen habe zum Brainstorming – diese neuen Ideen und ungedachten Gedanken sind nämlich kapriziöse kleine Dinger, die kommen nicht, wenn man es will! Ich komme jedenfalls nur aus längeren Urlauben deutlich erholt, inspiriert und voller Tatendrang zurück, wobei es oft genug anderthalb Wochen dauert, bis ich überhaupt aus dem Arbeitsmodus runtergefahren bin und die latente Unruhe und Anspannung nachlässt, weil ich plötzlich „nichts“ zu tun habe. So ist wohl jeder anders gestrickt.

    • Liebe Susanne, natürlich funktionieren Menschen unterschiedlich – und das ist auch gut so. Was ich zwischen 1979 und 2010 gemacht habe, will ich heute auch nicht mehr. Ob es nun am Alter oder an etwas anderem liegt, spielt keine Rolle. Nun habe ich aber auch das große Glück, mir meine Zeit doch sehr gut einteilen zu können. Außerdem „muss“ (ist nicht negativ gemeint) ich nicht für eine Familie mit Kindern sorgen. Ob ich koche oder nicht, stört unter der Woche niemanden – höchstens mich. Wann ich aufstehe und ins Bett gehe, entscheide ich und hat auf niemanden Einfluss – das muss und kann ich allein mit meinen Aufträgen in Einklang bringen. Insofern bin ich sicher nicht so „belastet“ oder habe keine zeitgeregelten Abläufe zu beachten. Ich ziehe meinen Hut vor allem vor allen Frauen, die es schaffen, Beruf und Familie mit Kindern unter einen Hut zu bringen. Chapeau! Und selbstverständlich gönne ich allen die kreative Auszeit, wie auch immer diese gestaltet sein möge. Auch ich freue mich auf meinen Urlaub im Engadin. 🙂

  5. Liebe Giselle Chaumien,
    eigentlich müssten wir uns aus Germersheim kennen. Ich habe 1978 den Dolmetscher gemacht und arbeite seitdem freiberuflich vor allem für Spanisch. Französisch ist meine C-Sprache. Sie kennen wohl Sabine Seubert, die ich auch gern mag.
    Bezüglich Urlaub sprechen Sie mir aus der Seele. Zwar gehöre ich auch zu den Entdeckern und bin gern unterwegs, aber weil der Weg das Ziel ist, oder weil ich meine Neugierde befriedigen möchte. Urlaub auf dem Badetuch ist der absolute Horror. Das halte ich maximal 2 Tage aus, um Eindrücke sacken zu lassen oder mal in Ruhe zu lesen. – Dieser Sommer ist dem Garten mit Birnen, Pflaumen, Äpfeln und weniger süßen Köstlichkeiten gewidmet. Ich suche noch die ultimativen Rezepte fürs Konservieren – kein Tiefgefrieren.
    Herzliche Grüße
    Laila Neubert-Mader

    • Liebe Laila, da ich als Französin Deutsch als 1. Fremdsprache nehmen musste und Englisch als Zweitsprache hatte, bin ich mir nicht sicher, ob wir überhaupt Gelegenheit hatten, gemeinsam die Schul-, pardon, die Unibank im selben Raum zu drücken.
      Das Verarbeiten von Obst aus dem eigenen Garten ist eine wunderbare Beschäftigung, der ich auch gerne nachgehe. Ich mache vor allem Marmelade, lege Obst in Rum oder Cognac ein … und backe Kuchen für die halbe Nachbarschaft.
      Herzliche Grüße
      Giselle

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