Warum Übersetzer oft introvertiert sind – und Dolmetscher meist extrovertiert.
Ein Blogbeitrag unserer Kollegin Ricarda Colditz
Ich wollte eigentlich einen Beruf wählen, der mit Texten und Büchern und ganz allgemein Sprache zu tun hat. Eine Tätigkeit, die ich vor allem allein in einem ruhigen Büro ausüben kann. Nach vielen beruflichen Stationen im In- und Ausland, nach Großraumbüro und anstrengenden Kollegen habe ich mich schließlich 2012 als Übersetzerin selbstständig gemacht. Mein Glück schien perfekt. Nur hatte ich etwas außer Acht gelassen: Meine introvertierte Persönlichkeit und deren Auswirkungen auf meine Selbstständigkeit.
Wenn man sich in der Welt der Sprache umsieht, fällt ein interessantes Muster auf: Viele Übersetzer(*) sind eher ruhige, analytische Menschen, während Dolmetscher(*) oft kommunikativ und spontan wirken. Natürlich gibt es Ausnahmen, aber die Tendenz ist auffällig. Und wo, liebe Kolleginnen und Kollegen im Sprachenbereich, sehen Sie sich? Drücken Sie sich lieber schriftlich aus, oder blühen Sie im direkten Austausch mit Menschen auf? Aber schauen wir uns zunächst an, warum das so ist.
Introvertiert oder extrovertiert – eine Frage des Gehirns
Die Unterschiede zwischen introvertierten und extrovertierten Menschen sind tief in der Art verankert, wie ihr Gehirn Reize verarbeitet. Introvertierte nehmen Informationen intensiver auf und brauchen möglicherweise etwas mehr Zeit, um sie zu verarbeiten. Deshalb fühlen sie sich in ruhigen, durchdachten Tätigkeiten oft wohler. Übersetzer(*) arbeiten meist alleine, in einem kontrollierten Umfeld, und haben Zeit, Formulierungen sorgfältig zu überdenken – ein perfektes Arbeitsfeld für analytische Denker.
Extrovertierte hingegen sind auf äußere Reize angewiesen, um sich wohlzufühlen. Sie verarbeiten Informationen schnell und können gut mit unerwarteten Situationen umgehen. Beim Dolmetschen muss blitzschnell reagiert werden, es gibt keine Möglichkeit zum Nachdenken oder Überarbeiten. Die Interaktion mit anderen Menschen, das schnelle Umschalten zwischen Sprachen und die Dynamik der Situation geben extrovertierten Dolmetschern die Energie, die sie brauchen. Introvertierte fühlen sich da schnell ausgelaugt.
Typische Stärken von Introvertierten und Extrovertierten im Überblick
Jeder Mensch hat seine ganz eigenen Stärken – egal, ob introvertiert oder extrovertiert. Entscheidend ist, diese zu erkennen und gezielt einzusetzen. Hierbei möchte ich betonen, dass es bei der folgenden Übersicht kein Schwarz-Weiß gibt, denn jede Persönlichkeit ist einzigartig. Vielmehr ist sie mit einer vielschichtigen Zwiebel zu vergleichen, und Komponenten wie Extrovertiertheit oder Introvertiertheit sind dabei nur zwei einzelne Schichten.
Introvertierte Stärken:
- Tiefes, analytisches Denken
- Hohe Konzentrationsfähigkeit
- Präzises und reflektiertes Arbeiten
- Starke schriftliche Ausdruckskraft
Herausforderungen für Introvertierte:
- Netzwerken und Sichtbarkeit
- Spontane Reaktionen in sozialen Situationen
- Arbeiten in lauter, unkontrollierbarer Umgebung
Extrovertierte Stärken:
- Schnelle Reaktionsfähigkeit
- Kommunikationsstärke und Spontaneität
- Leichte Anpassung an neue Situationen
- Risikobereitschaft
Herausforderungen für Extrovertierte:
- Lange Fokussierung auf eine Sache
- Bedarf an vielen äußeren Reizen
- Risiko der häufigeren Ablenkung
- Weniger Geduld für detailorientierte Aufgaben
Den eigenen Weg finden
Egal was Sie beruflich machen, ob Sie eher introvertiert oder extrovertiert sind – es gibt keine „bessere“ oder „schlechtere“ Persönlichkeit. Entscheidend ist, die eigenen Stärken zu erkennen und sich ein Umfeld zu schaffen, in dem man aufblühen kann. Für viele introvertierte Menschen ist genau das eine Herausforderung. Oft wird ihnen das Gefühl vermittelt, lauter, sichtbarer oder spontaner sein zu müssen, um erfolgreich zu sein. Ich konnte z. B. mit dem Thema „Netzwerken“ nie etwas anfangen. Small Talk? Mit Fremden reden? Meine eigene Leistung anpreisen und mich in den Mittelpunkt rücken? Das war nichts für mich. Ich fand heraus, dass es stille Wege zum Erfolg gibt – Wege, die zu den eigenen Talenten und der eigenen Energie passen.
Mein Weg
Und so beschritt ich nach fast zehn Jahren Selbstständigkeit als Übersetzerin einen neuen Weg und gründete einen Verlag. Ausschlaggebend war das Buch „The Introvert’s Edge to Networking“ von Matthew Pollard. Denn hier zeigte mir jemand, wie ich mit meiner leisen Persönlichkeit netzwerken kann, ohne mich zu verbiegen. Kurz: Ich kaufte die Übersetzungsrechte, übersetzte das Buch selbst und veröffentlichte es im eigenen Verlag unter dem Titel: „Der Pfad der Introvertierten zum Networking“. Wie passend, dass der Autor auch ein zweites Buch zum Thema Verkaufen geschrieben hatte, das ein Jahr später herauskam: „Der Pfad der Introvertierten zum Verkaufen“. Seitdem habe ich diese beiden Themen – die Introvertierte meist gar nicht mögen – für mich durchbuchstabiert. Und ja, ich habe mir oft gewünscht, dass ich die Informationen zehn, fünfzehn Jahre früher bekommen hätte. Inzwischen ist das meine Stärke geworden. Früher konnte ich es mir nicht vorstellen.
Fantasiereisen und Zielreisen als hilfreiche Unterstützung
Um sich mental etwas vorzustellen, sind z. B. Fantasiereisen und Zielreisen besonders wertvoll, weil sie auf eine kraftvolle Weise innere Ressourcen aktivieren – und Introvertierte haben eine tiefe Verbindung zu ihrer inneren Welt.
Diese Hörerlebnisse (eingesprochener Text mit passender Hintergrundmusik) sind geführte mentale Übungen, bei denen durch bildhafte Vorstellungen eine tiefe Entspannung und innere Ruhe erreicht wird. Sie führen die Teilnehmenden an imaginäre Orte oder durch bestimmte Szenarien, die positive Gefühle hervorrufen und den Geist beruhigen. Zielreisen fokussieren spezifisch auf die Visualisierung persönlicher Ziele. Durch das geistige Durchspielen von Zielerreichungsprozessen werden Motivation und Klarheit gestärkt. Es ist also eine effektive Methode zur persönlichen Weiterentwicklung. Und so können auch Introvertierte lernen, erfolgreich und authentisch zu netzwerken und zu verkaufen!
Falls Sie das Gefühl haben, Ihre Stärken noch nicht ganz gefunden zu haben oder sich in einer lauten Welt manchmal fehl am Platz fühlen: Sie sind nicht allein. Manchmal braucht es nur eine kleine Perspektivänderung, um zu erkennen, wie wertvoll gerade die leisen Qualitäten sind. Etwas Neugier und innere Bereitschaft für eine persönliche Weiterentwicklung gehören aber schon dazu.
Herzlichen Dank, liebe Ricarda, für diese interessanten Beitrag.
Ricarda Colditz, Autorin dieses Blogbeitrags, schreibt über sich:
Ich bin eine introvertierte Übersetzerin, die zur Verlegerin wurde und nun als leise Mutmacherin andere Intros unterstützt – eben introvertiert versiert im Business. Meine neu gegründete Community freut sich über Mitgliedsanfragen.
(*) Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wird in den Rüsterweg-Artikeln auf die geschlechtsspezifische Schreibweise verzichtet und das generische Maskulinum verwendet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen und Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für alle Geschlechter. Die verkürzte Sprachform hat nur redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung.