Wenn Juristen die Zeit anhalten
Was Harry Potter kann, können Juristen schon lang: zaubern. Juristen können die Zeit anhalten. Genauer gesagt: Sie sind in der Lage, eine zusätzliche Sekunde in die Zeit hineinzuzaubern. Wie bitte? Sie glauben mir nicht? Doch! Es stimmt: Man nennt das die juristische oder logische Sekunde.
Spaß beiseite. Die juristische Sekunde ist keine Erfindung der heutigen Zeit. Es handelt sich um eine aus dem römischen Recht stammende Erklärungsfigur, ein theoretisches Konstrukt in der Rechtswissenschaft. Sie bezeichnet einen fiktiven Zeitraum, der zwischen zwei als aufeinanderfolgend vorgestellte Rechtswirkungen desselben physischen Ereignisses zur Veranschaulichung eingeschoben wird.
Alles klar? Ich formuliere es anders:
Die juristische Sekunde ist keine Sekunde im Sinne der Zeiteinheit, sondern ein fiktiver, gedachter Augenblick. So weit, so gut. Die zeitliche Ausdehnung einer juristischen Sekunde ist mithin exakt null. Die juristische Sekunde ist also eine reine gedankliche Hilfskonstruktion zur Prioritätsbestimmung für gleichzeitig stattfindende Vorgänge, durch die der Übergang von Rechten zwischen Personen oder Organisationen besser nachvollzogen werden kann.
Beispiel
Auf einem Grundstück mit einer einzigen Flurstücknummer im Grundbuch wurde ein Doppelhaus gebaut. Jede Doppelhaushälfte wurde von einer Partei erworben. Das Grundstück war zum Zeitpunkt der Errichtung des Doppelhauses jedoch laut der relevanten Bauvorschriften nicht real teilbar, sondern nur nach dem sog. Wohnungseigentumsgesetz (WEG) – ähnlich wie eine Etagenwohnung in einem Mehrfamilienhaus. Es war also im rechtlichen Sinn nicht (real) getrennt. Die Teilung nach WEG birgt aber neben Vorteilen auch einige Nachteile, zum Beispiel die Pflichten in Bezug auf das Gemeinschaftseigentum (z. B. Fenster, Fassade, Zaun).
Eines Tages erfahren die beiden Parteien, dass sich die relevanten Bauvorschriften für das Wohnviertel geändert haben und das Grundstück nun tatsächlich real teilbar ist. Sie vereinbaren einen Termin beim Notar, um die reale Teilung protokollieren zu lassen.
Was passiert dann?
Die reale Teilung mit dem Vollzug des Eigentumsübergangs des jeweiligen Anteils an jede der beiden Parteien kann erst erfolgen, nachdem beide Flurstückparzellen auf eine der beiden Parteien übertragen werden – für eine logische Sekunde. Erst dann kann die rechtlich gültige Trennung des Gesamtgrundstücks erfolgen, sodass jede Partei ein selbstständiges Grundstück (Flurstück) besitzt, das als solches im Grundbuch eingetragen wird.
Dass eine solche Realteilung entsprechend hohe Notar- und sonstige Kosten verursacht, ist klar. Grundlage für die Bewertung ist der Wert des Objekts (Grundstück, also Bodenrichtwert, sowie Bebauung).
Hintergrund
Wie bereits erwähnt, stammt diese juristische Sekunde aus dem römischen Recht. Hintergrund war ein Testament, in dem festgelegt war, dass ein Sklave freigelassen werden und ihm ein Legat zukommen soll. Freilassung UND Legat bilden das Gesamterbe. Dem Sklaven konnte kraft des Testaments erst dann das Legat rechtlich zugesprochen werden, nachdem die Freilassung ausgerufen worden war. Durch die Freilassung wurde erst die Rechtslage für den Zuspruch des Legats geschaffen, sie musste „logisch“ vor der Zuwendung erfolgen.
Durchgangserwerb und andere Anwendungsfälle
Der Fachbegriff „logische oder juristische Sekunde“ kommt unter anderem auch im Zusammenhang mit dem sog. Durchgangserwerb genannt. Ein Durchgangserwerb liegt vor, wenn gegenüber dem endgültigen Erwerber eine nur vermittelnde Person steht. Beispiel: A verkauft Auto an B, dieser sofort wieder an C; A liefert auf Weisung des B direkt an C. In dieser logischen Sekunde gehört der Gegenstand zum Vermögen des B und könnte dabei „theoretisch“ dem Zugriff seiner Gläubiger unterliegen.
Allerdings ist die gängige Rechtsprechung in den vergangenen 30 Jahren in diesem Zusammenhang glücklicherweise eher durch gesunden Menschenverstand geprägt. So gilt in vielen Urteilen bzw. Urteilsbegründungen folgender Leitsatz: „Für die Feststellung des wirtschaftlichen Eigentums i. S. v. § 39 Abs. 2 Nr. 1 AO kommt es entscheidend auf das wirtschaftlich Gewollte und das tatsächlich Bewirkte an, also auf konkrete tatsächliche Umstände; daher ist eine – nicht reale – logische Sekunde als lediglich gedankliche Hilfskonstruktion für eine solche tatsächliche Feststellung unerheblich.“ (Beispiele: FG Köln Urteil vom 03.06.2008 – 1 K 1712/04 sowie BFH-Urteil vom 26.1.2011, IX R 7/09)
Auch kann beispielsweise ein Unfallgeschädigter, der aufgrund des Unfalls einige Monate arbeitsunfähig ist und dessen Versicherung A den Unfallverursacher bzw. dessen Versicherung B in Regress nimmt, keinen Anspruch auf die dadurch entstehende Zahlung an die Versicherung A erheben, da er lediglich für die Dauer einer logischen Sekunde Forderungsinhaber sei, sodass „dem Rekurs nicht Folge gegeben wurde“, heißt es im Urteil des OGH Österreich vom 24.10.2002 (Geschäftszahl 2Ob238/02t).
Französische Rechtssprache
Im französischen Recht kommt die logische Sekunde nicht zur Anwendung. In der vergleichenden Rechtswissenschaft wird sie als „spécialité du droit privé allemand“ bezeichnet.
Dennoch sind Rechtswissenschaftler in Frankreich durchaus mit dem Fachbegriff „seconde logique“ oder „seconde juridique“ vertraut, wenn sie sich mit deutschem Recht befassen, wie dieser Auszug aus L’Unité du Droit von Rainer Maria Kiesow zeigt, einem Werk, in dem Kiesow unter anderem beschreibt, wie das bisherige deutsche Rechtssystem am 31. Dezember 1899 um Mitternacht dem am 1. Januar 1900 um Null Uhr sodann in Kraft tretenden Bürgerlichen Gesetzbuch Platz macht.
(Quelle: L’unité du droit – Rainer Maria Kiesow – Google Books)
(Beitragsbild oben von-2427999 auf Pixabay – dankeschön)