Duzen oder siezen in Frankreich? Do’s and Don’ts.
Einen Blogpost in deutscher Sprache über eine französische Frage mit einem teilenglischen Untertitel beginnen, das birgt schon etwas Absurdes. Oder vielleicht doch nicht?
Geschichtliches
Das Siezen (le vouvoiement, vouvoyer) hat in Frankreich eine sehr lange Geschichte. Historiker können zwar nicht präzise belegen, wann es damit anfing, klar ist aber, dass im Spätlateinischen (ca. ab dem 2. Jh. bis zum Ende der Antike) das Siezen verstärkt angewendet wurde.
Bis ins 18. Jahrhundert hinein ist das Siezen in Frankreich nicht nur ein Zeichen des Respekts, sondern vor allem Ausdruck eines Hierarchiedenkens und einer Betrachtungsweise „von oben nach unten“ – im heutigen Managersprech als Top-down bezeichnet. Franzosen sagen dazu verticalité. Es war zu jener Zeit nicht angebracht, dass ein einfacher Bürger (un citoyen) einen Adeligen duzt, wobei der citoyen von einem Aristokraten geduzt und vom Bettler an der Straßenecke gesiezt wurde. Sprache bildete demnach die Hierarchie in den Gesellschaftsschichten ohne jegliche Zweideutigkeit ab. In einigen Gruppierungen war das automatische Duzen übrigens schon viel früher gang und gäbe: Dass Parteifreunde, Gewerkschaftsmitglieder oder auch Vereinsbrüder und -schwestern einander siezen, war schon vor über 100 Jahren undenkbar – auch in Frankreich.
Heute
In der heutigen Zeit hat sich auch in Frankreich einiges gewandelt, dennoch sind die Grenzen nicht ganz so verschwommen wie aktuell in Deutschland. Gesiezt werden in Frankreich selbstverständlich grundsätzlich Personen, die man nicht kennt bzw. die man gerade kennenlernt. Auch Vorgesetzte werden zunächst gesiezt, bis sie einem ggf. das Du anbieten, ganz unabhängig davon, wer von beiden Personen die ältere ist – also nicht wie in Deutschland, wo die ungeschriebene Regel besagt, dass stets der Ältere dem Jüngeren das Du anbietet. Der Grundsatz ist nicht mehr das „Besser-Schlechter- oder Oben-Unten-Prinzip“, sondern nach wie vor der Respekt, den man dem Anderen zollt. Nun wird der bzw. die eine oder andere Leser bzw. Leserin einwerfen, man könne doch auch jemanden respektieren, den man duzt. Klar. Das streitet ja niemand ab. Aber hier spielen noch andere Elemente eine Rolle.
In Unternehmen
In Unternehmen – wir sprechen immer noch von Frankreich – passiert es ganz häufig, dass man gerade einmal eine halbe Stunde mit ein paar Leuten, die man zum ersten Mal trifft, in einem Meeting oder in einer Schulung sitzt und schon duzt jede(r) jede(n), dies völlig unabhängig vom Alter, von der hierarchischen Position usw. Das habe ich schon vor vierzig Jahren so erlebt, wobei meine deutschen Kolleginnen und Kollegen das damals befremdlich fanden, und es ist natürlich auch heute noch so. Und am zweiten Tag des Meetings oder der Schulung begrüßen sich die meisten mit drei oder vier Wangenküsschen (trois ou quatre bises) – aber das war vor Corona.
Chefs, die (noch) eine Sekretärin, pardon, Assistentin im Vorzimmer haben, siezen die Dame und nennen sie beim Vornamen – in Deutschland ist die Praktik auch als „Hamburger Du“ bekannt. Beispiel: „Chantal, voulez-vous m’apporter ce dossier s’il vous plaît?“ Damit werden einerseits das hierarchische Verhältnis (ohne herablassendes Wohlwollen, wie vielleicht manche deutsche LeserInnen hier mutmaßen) und andererseits die berufliche „Vertrautheit“ im Sinne des Teilens gemeinsamer beruflicher und unternehmerischer Interessen, Ziele und Aufgaben zum Ausdruck gebracht. In meiner langen Zeit in einem französischen Konzern duzte ich mich mit ganz vielen Kolleginnen und Kollegen in Frankreich, wurde von den allerhöchsten Chefs im Unternehmen gesiezt und beim Vornamen gerufen – für mich ein Zeichen des großen Respekts und der Verbundenheit, die sie mir entgegenbrachten.
Dieses Hamburger Du wahrt die Balance zwischen Abstand und Vertrauen, indem es den Vornamen mit einer gewissen Förmlichkeit verbindet. Es birgt etwas Respektvolles.
In meinem direkten Arbeitsumfeld in Deutschland dagegen habe ich es immer abgelehnt, meinen direkten Vorgesetzten und meine V+N bzw. meine MitarbeiterInnen zu duzen. Ich finde, dass es ungleich schwieriger ist, einen Chef, den man duzt, um eine Gehaltserhöhung zu bitten, sich bei ihm über eine unpassende persönliche, vielleicht sexistische Bemerkung, die er in einem Meeting gemacht hat, zu beschweren oder einfach das jährliche Beurteilungsgespräch, in dem es in Bezug auf Leistung und Mängel so richtig zur Sache geht, abzuwickeln. Da ist das distanziertere Sie wesentlich zielführender und angemessener. Übrigens gilt das in meinen Augen auch für Selbstständige: Ob im Umgang mit Agenturkunden oder Direktkunden, das Sie ist die bessere Variante, vor allem wenn es einmal nicht so läuft, wie sich das alle wünschen, oder eine Honorarerhöhung durchgesetzt werden soll.
Die „Du-Mode“ und die unterschiedlichen Auffassungen
Es wurde schon Ende des 1980er Jahre festgestellt, dass in Frankreich so gut wie in allen jungen Technologiebetrieben, in Start-ups, aber auch in der Werbebranche, im Medienbereich und in Supermarktketten geduzt wird – von der Musikszene ganz zu schweigen. Die französische „Du-Mode“ (la mode du tu, sagten damals die Franzosen) ist auf die erste Privatisierungswelle französischer Staatsunternehmen wenige Jahre vor der Jahrtausendwende zurückzuführen, die etliche Fusionen mit ausländischen Firmen zur Folge hatte. Die gemeinsame Corporate Language war dann zwangsläufig das von Franzosen nicht so sehr gemochte und nicht sehr gut beherrschte Englisch. In den Chefetagen sprach man ohnehin Englisch, leitende Angestellte hatten mindestens einen Teil ihrer Ausbildung in den USA absolviert – das erklärt, dass sich hier die Du-Praxis durchgesetzt hat.
Das Du fand dann in den social media in Deutschland ganz selbstverständlich durchgängig Anwendung, während in Frankreich auch auf Facebook oder Twitter immer noch öfter das vous im Vordergrund steht, auch unter Kolleginnen und Kollegen, bis der oder die eine dem oder der anderen das Du anbietet.
Während in Deutschland GymnasialschülerInnen laut einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung lieber auf das Sie verzichten, wenn sie jemand aus dem Lehrkörper anspricht, werden in Frankreich in den meisten Lycées und vor allem auf staatlich anerkannten Privatschulen die SchülerInnen gesiezt – auch schon im Alter von 11 oder 12 Jahren. LehrerInnen, Eltern und SchülerInnen legen laut Étienne Kern, Autor des sehr interessanten und kurzweiligen Buches „Le tu et le vous“ (Flammarion, Oktober 2020, 19 Euro bei FNAC), wert darauf – es sei schließlich eine Frage des Respekts und erleichtere den Umgang miteinander. Selbstverständlich wird auch das in Abhängigkeit des Standorts, Einzugsgebiets und des sich daraus ergebenden „Schüler- bzw. Elternpublikum“ anders gehandhabt. So wird in den meisten Schulen an sozialen Brennpunkten, also in den sozial schwachen Gegenden in den Randzonen der Großstädte wie zum Beispiel Sarcelles, quasi durchgängig geduzt, unter anderem weil das Duzen hier ohnehin zum kulturellen Hintergrund gehört.
Privatleben und Kontakte zum Umfeld
Im Privatleben geht man in Frankreich recht schnell zum Duzen über: Nachbarn, Vereinsfreunde, Urlaubsgenossen … Da wird nicht lange gefackelt. Allerdings gibt es in Frankreich durchaus noch traditionsverankerte Familien der noch existierenden „Grande Bourgeoisie“, in denen Kinder ihre Eltern, Onkel, Tanten und Großeltern siezen oder auch jeder jeden im Familienclan siezt, einschließlich der Ehepartner untereinander – oft ihr Leben lang. Meist herrscht diese Praktik in Familien, in denen die Kinder die besten Gymnasien und später Eliteschulen besuchen, um dann mit einem Eliteabschluss in die Politik oder in die höheren Wirtschaftssphären zu gehen. Eine andere Welt sozusagen …
Dass Schulkinder ihre LehrerInnen der École primaire, kleine PatientInnen den Kinderarzt oder Zahnarzt oder Kinder in einem Laden den oder die VerkäuferIn duzen, ist auch heute noch in Frankreich in keinem Fall die Regel und wird, wenn es im Vorfeld nicht klar geregelt wurde bzw. wenn es sich nicht um Kleinstkinder bis ca. 6 Jahren handelt, als „Zeichen mangelnder Erziehung oder Aufklärung, ggf. als frech und respektlos“ empfunden, so die Rückmeldung von (französischen) Freunden, Verwandten und KollegInnen (allesamt unter 40) in Frankreich, die ich befragt habe. Ich teile diese Meinung. Eine (35-jährige) Bekannte, Lehrerin an einer Grundschule in einer Pariser Banlieue, erklärte, dass sie den Kindern beibringe, auch (nicht verwandte oder nicht mit der Familie befreundete) Menschen, die sie bisher duzten, weil das bei Kleinstkindern üblich ist, zu siezen. So habe ich es auch von meinen Eltern gelernt, so handhaben es auch mehrheitlich junge Eltern in Frankreich. Das ist übrigens nicht meine These, sondern kann in oben erwähntem sehr empfehlenswerten Werk von Étienne Kern nachgelesen werden.
Das vermehrte Du stellt einiges auf den Kopf
„Früher gab es nur zwei Gründe, sich zu duzen: Man war jung oder man kannte sich gut. Heute ist das Wörtchen ‚Du‚ der Nukleus, von dem aus Jugendlichkeit die gesamte Gesellschaft überwuchert. Dem Sie bleibt da nur noch jene Rolle, die in der Herrenbekleidung die Krawatte spielt: als Signalgeber für Förmlichkeit und Seriosität“, schrieb der Journalist Sebastian Hammelehle.
Das Siezen verliere zwar auch in Frankreich an Boden, doch viel weniger und viel langsamer als in anderen Ländern wie beispielsweise Deutschland, so Étienne Kern, der weiter erklärt, dass die Entscheidung einer Person für das Du oder das Sie in einer bestimmten Situation einer Begegnung mit einem Fremden (präzisiere: nicht verwandt und nicht zum engen Freundeskreis zugehörig) – wie bei einer Weichenstellung – durchaus etwas über die Zugehörigkeit des Sprechers oder der Sprecherin zu einer bestimmten Gesellschaftsgruppierung (damit ist nicht unbedingt die soziale Schicht gemeint) aussagt.
Respekt und Wertschätzung
Dass Menschen in Frankreich vermehrt und schneller zum Du übergehen, stellst einiges auf den Kopf in den zwischenmenschlichen Beziehungen, zum Beispiel in der Arbeitswelt – wie oben bereits geschildert, aber auch im Alltag. Beim Einkaufen stellt man in Frankreich fest, dass Höflichkeit großgeschrieben wird. Jeder Frage, jedem Hinweis folgt ein „Madame“ oder „Monsieur“ – selbst in einem großen unpersönlichen Supermarkt.
- Et que prendrez-vous avec cela, Madame ?
- Vous faut-il encore autre chose avec ça, Monsieur ?
Wenn sich dann alle duzen, fehlt doch etwas: dieses respektvolle, förmliche „der Kunde ist König“-Gefühl. Dann ist das wie an der Wursttheke eines deutschen Supermarktes, wenn die Verkäuferin fragt: „Noch was?“. Traurig und despektierlich.
Es hat schon etwas Beruhigendes, ja, etwas Anerkennendes, Erhebendes, wenn ein Kunde einen respektvoll mit dem kleinen Wörtchen Sie anspricht. Ein Lob wirkt unterschiedlich, wird die gelobte Person geduzt oder gesiezt. Da sind nicht nur die einzelnen Wörter andere und wirken anders, da entsteht mitunter ein ganz verzerrtes Bild. Unter Duz-Bekannten sagt man leicht „super!“, aber ein „Mit Ihrer Leistung sind wir sehr zufrieden“ hat doch eine ganz andere Dimension. Und gerade in der Welt der Sprachagenturen wirkt ein „gute Arbeit, [Vorname]“ völlig anders als ein „Liebe Frau / Herr [Name], das war eine sehr gute Arbeit], insbesondere in der Referenzliste auf der eigenen Website – da beißt die Maus keinen Faden ab.
Inzwischen weiß ich aus vielen Gesprächen, auch in beruflichen Kreisen, dass nicht wenige (und keineswegs nur Ü50-Personen) durchaus Gefallen daran finden, in bestimmten Situationen wieder mit Sie angesprochen zu werden. So mancher bezeichnet das als Neokonservativismus, aber das hat wenig Bedeutung. Vielleicht erinnert sich der oder die eine oder andere an das Sportmoderatoren-Duo Gerhard Delling und Günter Netzer, die dreizehn Jahre lang gemeinsam vor der Kamera standen und einander siezten (und noch siezen).
Erzwungene Duz-Kultur in Unternehmen
In einem Team, einer Abteilung bietet der Chef seiner Mannschaft oft das Du an, auch hier ungeachtet des eigenen Alters und des Alters der Teammitglieder. Hier ist da Du Ausdruck des Willens zu zeigen, dass man Gemeinsames teilt (Aufgaben, Abteilungsziel, Identifikation mit dem Unternehmen, dem Projektziel usw.), es ist ein Zeichen von Solidardenken.
Einige Unternehmen wie zum Beispiel Ikea oder die Otto Group, Kaufland und Lidl haben inzwischen eine durchgängige Duz-Kultur eingeführt, das heißt, dass in der Firma jede(r) jede(n) duzt, ungeachtet der Position in der Hierarchie. Das schaffe Barrieren ab und sorge für mehr Lockerheit und Motivation. Laut der jüngsten Ausgabe (2020) des Business-Knigge, der längst nicht mehr von „alten Säcken“ erstellt wird, darf das Du ausschließlich der Ranghöhere dem Rangniedrigeren, eine Frau einem Mann, ein älterer Mensch einem jüngeren Menschen usw. angeboten werden. Abschaffung von Barrieren? Keineswegs.
Kommunizieren auf Augenhöhe? Mitnichten. Das ist einfach ein Irrglaube. Solange alles gut läuft, mag das Allround-Duzen in Ordnung sein, auch wenn es zu einer gedanklichen Abflachung der Hierarchiestrukturen führt. Aber spätestens, wenn es Konflikte gibt, wenn es um Geld geht, wenn der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin eine höhere Gehaltsklasse anstrebt und diese ihm bzw. ihr aber abgelehnt wird, wenn das Unternehmen Arbeitsplätze abbauen muss/will, ist die Situation mehr als heikel: „Du, ich muss dir leider sagen, dass wir dir kündigen“. Für beide Seiten eine höchst unangenehme Situation, die anders zu bewältigen wäre, wenn man sich siezen würde – auch wenn das Ergebnis am Ende das gleiche ist.
Auch namhafte Arbeitspsychologen wie Prof. Tim Hagemann sehen in der Duz-Kultur in Unternehmen und in den Kunden-Lieferanten-Beziehungen von Selbstständigen potenzielle Probleme. Gerade wegen der Vertrautheit untereinander kann es dann zunehmend schwerfallen, bei Konflikten einen professionellen Umgang beizubehalten. Durch das persönliche Du können Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten viel schneller eskalieren, und so manche Kritik wird sehr viel persönlicher empfunden. Große Unternehmen bräuchten nun einmal klare Regeln, wer entscheidet: „Ein Du würde hier eine Gleichheit von Chef und Mitarbeitern vorgaukeln, die im Zweifelsfall aber gar nicht gilt.“ Das Argument, schließlich würde man sich den anglo-amerikanischen Gepflogenheiten anpassen, zieht hier nicht, denn: „Ein Kulturwandel lässt sich nicht von oben verordnen“, sagt Hagemann, „schon gar nicht durch eine rein sprachliche Neuregelung, wenn sonst alle Strukturen gleich bleiben.“ Duzen im Job: Siezen ist ein Zeichen von Respekt (wiwo.de)
P.S. Mir fällt übrigens auf, dass Hagemanns letzter O-Ton 1:1 auch auf das Thema Gendern passen würde. 😉