Gratwanderung zwischen Job und Privatleben und die veränderte Arbeitswelt
Wer im Beruf etwas erreichen will, muss Opfer bringen: Festangestellte arbeiten viele Stunden, müssen eine hohe Mobilitätsbereitschaft zeigen und vielseitig einsatzfähig sein. Wer überpünktlich Feierabend macht, handelt sich Minuspunkte ein. Selbstständige wissen es ebenso: „immer selbst und ständig“, so der Spruch, der nicht selten zähneknirschend zum Besten gegeben wird. Angebote, Auftragsbearbeitung, Rechnungen schreiben, sonstige administrative Tätigkeiten und selbstredend auch Akquisetätigkeiten … alles Aufgaben, die erledigt werden wollen und müssen. Da bleiben die „3 F“ – Familie, Freizeit und Ferien – oft auf der Strecke. Doch, Moment mal – da gab es doch etwas… Die berühmt-berüchtigte Work Life Balance, die in aller Munde ist und von vielen Unternehmen – zumindest in der Industrie – mit kostenintensiven Programmen gefördert wird.
Leistung muss sein
Dass unser Wirtschaftsumfeld kein Zuckerschlecken ist, weiß heute jedes Kind. Tagtäglich erfahren wir durch die Medien, wie komplex die Zusammenhänge sind und vor allem wie schwierig das nachhaltige Bestehen auf der ökonomischen Bühne ist. Unternehmer investieren horrende Beträge, gründen Firmen, gehen Risiken ein und beschäftigen Menschen – geben ihnen Arbeit. Da wird es doch wohl selbstverständlich sein, dass man sich entsprechend engagiert – oder?
Wer einen Job sucht, bei dem er sich halbwegs ausgeruht auf den Feierabend vorbereiten kann, hat es heute – zum Glück – immer schwieriger: Diese sind nämlich immer seltener. Gefordert werden, ist normal – und auch in Ordnung. Aber niemand sollte grenzenlos überfordert werden. Denn am Ende riskiert man, krank zu werden. Und davon hat niemand etwas, auch nicht der Arbeitgeber.
Selbstständige sind in der eigenen Tretmühle gefangen, die sie sich auch noch freiwillig selbst gebaut haben. Oftmals – gerade in der Anfangsphase ihrer Existenzgründung – gönnen sie sich nicht die nötigen Ruhepausen, geschweige denn, dass sie zum Arzt gehen, wenn sie sich krank fühlen. Das Ganze funktioniert bei dem einen länger und bei dem anderen kürzer, aber früher oder später meldet sich der Körper und sagt „he, so nicht mehr“.
Work Life Balance als (lebens-)wichtige Komponente
Ohne Mitarbeiter funktioniert kein Betrieb – ohne Betrieb gibt es keine Mitarbeiter. Die gegenseitige „Abhängigkeit“ ist letzten Endes das Band, aus dem das Leistungsprinzip in der Arbeitswelt gestrickt ist. Die Zeiten des amerikanischen „Hire and Fire“ kann und will sich zumindest in Europa kaum noch ein seriöser Unternehmer leisten.
Denn: Einstellungsprozesse und eine hohe Fluktuation verursachen in Unternehmen hohe Kosten und unnötige Reibungsverluste. Kontinuität im Personalbestand ist aufgrund des vorhandenen Know-hows von großer Bedeutung. Deshalb legen Firmen heute großen Wert darauf, die Gesundheit und Zufriedenheit ihrer Mitarbeiter zu fördern – mit Programmen, bei denen sie die Vereinbarkeit von Familie, Freizeit und Job erhöhen.
Und für Selbstständige gilt: Wenn Sie krank sind und nicht arbeiten können, wird kein Umsatz erzielt – dann können Sie Ihre „Boutique“ schließen. Wer finanziell nicht vorgesorgt hat, gerät ins ernsthafte Probleme. Um so wichtiger ist es daher, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Arbeit und Privatleben einzurichten.
Wandel der Zeit
Waren früher fast ausschließlich Männer für das Geldverdienen und Frauen im heimischen Umfeld für Kind und Küche zuständig, haben sich die Zeiten inzwischen längst – und zum Glück – gewandelt. Klar: Frauen kriegen nach wie vor die Kinder. Aber sie sind heute genauso aktiv im Berufsleben wie die Männer.
Wenn sich Betriebe für die Belange ihrer Mitarbeiter interessieren, fühlen sich diese bei ihrem Arbeitgeber wohl. Und wer in seinem Betrieb ein gutes Gefühl – sowohl in Bezug auf seine persönliche Zufriedenheit als auch im Hinblick auf seine Gesundheit – hat, der setzt sich gerne überdurchschnittlich in seinem Job ein. Deshalb ist es auch wichtig, dass er „trotz“ des hohen Arbeitsaufwands und der langen Arbeitstage gesund und zufrieden bleibt. Soziale Kontakte sind dabei ebenso wichtig wie die eigene Rolle in der Familie.
Moderne Zeiten
Weist man Selbstständige der Generation 50+, die im wahrsten Sinn des Wortes mit Leib und Seele dabei sind, auf die Gesundheitsrisiken von 16-Stunden-Arbeitstagen und 7-Tage-Wochen hin, erntet man oft nur ein müdes Lächeln. Ich weiß, wovon ich rede.
Anders bei den jüngeren Generationen: Die Generation Y, also die der Menschen, die im Zeitraum der frühen 1980er bis 2000er Jahre geboren wurden, macht zwar nicht unbedingt pünktlich Feierabend, sucht aber nach dem Sinn des Ganzen – deshalb auch Generation Y für das englische why (warum) – , hinterfragt und stellt in Frage, erwartet Freiräume (Stichwort Home Office). Die Generation Z, die sog. Digital Natives, für die die Technik des digitalen Zeitalters zu ihrem Leben wie die Luft zum Atmen gehört, differenziert noch stärker zwischen Arbeit und Privatleben. Work Life Balance – ja, aber mit ausgeprägterer Priorisierung hinsichtlich Life und Work – und zwar in der Reihenfolge. Regelmäßig länger im Büro, den Dienst-Laptop mit nach Hause nehmen, permanent für den Chef erreichbar sein – nein, danke. Das wollen die Gen Z‘ler nicht.
Generation Y und Z: immer online
Internet, Smartphone, E-Mails, SMS, WhatsApp, Social Media usw. – all das kennen die Vertreter der „Gen Z“, auch YouTuber genannt, quasi von Geburt an. Mit Computerspielen sind sie von klein auf vertraut. Die Gen Y’ler tun sich da auch nicht schwer. Ob Vertreter der Generation Y oder Z, sie alle reagieren schnell auf Twitter, Facebook & Co., sind immer und überall auf allen Kanälen aktiv: In der Straßenbahn, im Wartezimmer beim Arzt, im Café und selbstredend auch während des Besuchs bei der Freundin – online muss sein. Denn schließlich muss man erst einmal „148 Mails checken“ und obendrein noch „die Welt retten“, um die Worte von Tim Bendzko zu bemühen. Im Internet recherchieren, Infos per Instant Messaging versenden, Konferenz- oder Spracherkennungssoftware einsetzen – all das bereitet den Digital Natives überhaupt keine Schwierigkeiten … wobei das bei Dragon NaturallySpeaking nicht immer zutrifft ;-).
Und wie stehen die YouTuber zum Thema Arbeit? Sie muss Freude bereiten (ich wehre mich gegen die Formulierung „Spaß machen”), einen Sinn haben. Sie suchen sich nicht selten einen Mentor, der ihnen Orientierung gibt. Sie wollen gefördert und gefordert werden. Gelernt wird heute anders, „unnötiges“ Wissen auf Vorrat im Kopf speichern – nein danke, denn „alles, was wir je wissen wollen, ist immer nur wenige Mausklicks entfernt“, schreibt Philipp Riederle, Jahrgang 1994, Autor des Buches „Wer wir sind, und was wir wollen“ (Droemer Knaur).
Unternehmen müssen sich umstellen
Auf die Gen Y und Z müssen sich die Arbeitgeber einstellen, denn die jungen Leute, die jetzt ihre ersten Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt machen, wollen klar definierte Regeln und Aufgaben, feste Arbeitszeiten und keine Zeitverträge mehr. Sie wollen auch nicht mehr als Generation Praktikum abgestempelt werden.
Sie sind durchaus zur Übernahme von Verantwortung bereit. Mit Karrierechancen sind sie jedoch nicht mehr zu locken, denn ihre Selbstverwirklichung suchen die YouTuber vor allem in ihrer Freizeit und im sozialen Austausch mit Gleichgesinnten, mit denen sie sich virtuell quasi ununterbrochen „treffen“. Den nach 1995 Geborenen ist Gesundheit, Lebensqualität und freie Entfaltung wichtiger als Karriere und der Wohlstand ihrer Eltern- und Großelterngeneration, für die Letztere ihrer Meinung nach „zu viel schuften“ mussten.
Was kostet die Welt?
Vertreter der Gen Y und Z wollen etwas von der Welt sehen, bevor sie „alt und grau“ sind – finanziell vorsorgen ist dabei nicht so sehr auf dem Schirm. Sie haben einen völlig anderen Umgang mit Kunden – ich nenne das „Fielmann-Allüren“, weil sie mir beim Optiker Fielmann in zahlreichen Filialen aufgefallen ist: forsch, frech und fröhlich – Menschen über 70-75 bezeichnen das fallweise sogar als respektlos, doch so weit würde ich nicht gehen. Zumindest ist der Respekt, wie wir ihn in unserer Kindheit den Erwachsenen gegenüber gezollt haben, nicht mehr in der Form vorhanden, was nicht grundsätzlich schlecht ist.
Auffallend ist allerdings Folgendes: Die Digital Natives beider Generationen, Y und Z, bewegen sich in einer mobilen Internetwelt, in der die sog. weichen Kompetenzen, die Soft Skills, eher ein Schattendasein führen. Daher fehlt es ihnen nicht selten an für die Arbeitswelt – auch für den Kundenkontakt – wichtigen Sozialkompetenzen in zwischenmenschlichen Beziehungen außerhalb der digitalen Welt: Kommunikationsfähigkeit und Umgang in der Zusammenarbeit, gegenseitiges Verständnis und Empathie sind nur einige Beispiele.
Bei Selbstständigen kommt noch hinzu, dass sie sich in ihrer kleinen eigenen Welt um die eigene Achse drehen und, wenn sie sich aus ihrem Ei herauswagen, sich dann nur mit Gleichgesinnten und/oder jungen Leuten der gleichen Generation treffen, die ähnlich geprägt sind. Kontakte neu knüpfen, will sagen: Kunden zwecks Akquise anrufen, erweist sich daher als eine schier unlösbare Aufgabe.
Möglichkeiten der Betriebe
Zu den beliebtesten Methoden zur Förderung der Balance zwischen Arbeit und Privatleben gehören heutzutage flexible Arbeitszeitregelungen, die Option der Heimarbeit (die allerdings nicht in allen Branchen praktikabel ist) oder sog. Sabbaticals. Lösungen für die Alltagspraxis sind zum Beispiel Betriebskindergärten bzw. Kooperationen mit betriebsnahen KITAs, Veranstaltungen zu gesundheitlichen Themen und vielfältige Angebote, von Massage am Arbeitsplatz bis hin zur Kostenbeteiligung beim Besuch von Fitnessstudios usw.
Möglichkeiten des Einzelnen
Wer Karriere machen bzw. als Existenzgründer / Selbstständiger erfolgreich sein, aber vermeiden will, dass sein Leben aus der Balance gerät, muss auf seine Grenzen achten. Hier ein paar Tipps, die sowohl für Festangestellte als auch für „Einzelkämpfer“ gelten:
- Hören Sie auf die Signale Ihres Körpers.
- Machen Sie sich bewusst, wie Sie mit sich umgehen, was Sie sich – Ihrer Gesundheit – zumuten.
- Machen Sie eine Liste der Personen, mit denen Sie gerne in der Freizeit zusammen sind, und schreiben Sie daneben, wann Sie diese zuletzt getroffen haben.
- Setzen Sie sich ein (zeitliches) Limit für den „normalen“ Arbeitstag.
- Achten Sie darauf, dass Sie nach der Arbeit richtig „abschalten“.
- Schlafen Sie genug.
- Essen Sie gesund.
- Gehen Sie an der frischen Luft spazieren, beobachten Sie im Park die Vögel, spielende Hunde, Ihre Mitmenschen, indem Sie dies aus einer Metaebene betrachten, wie mit einer Kamera, die links knapp über Ihrem Kopf platziert ist. Schreiben Sie auf, was Sie sehen, und holen Sie Ihre Notizen vor dem Schlafengehen vor, um alles Revue passieren zu lassen – anstatt mit Problemen des Tages ins Bett zu gehen.
- Gönnen Sie sich Zeiten ohne Smartphone, Internet & Co. – auch wenn es nur 30 Minuten am Tag sind.
- Fragen Sie sich, was insgesamt in Ihrem Leben für Sie wichtig ist und wohin Sie wollen.
Ich drücke Ihnen die Daumen und wünsche Gesundheit und Gelassenheit.