Von den berühmten zwei Seelen
Um mit Goethes Faust zu sprechen: „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust“. Doch im Gegensatz zu Faust will sich die eine meine nicht von der anderen trennen. Die zwei Seelen, das ist die französische und die deutsche Seele, das sind die beiden Länder Frankreich und Deutschland, die tief in mir verwurzelt sind.
Mit einem deutschen und einem französischen Auge die Dinge zu betrachten, ist interessant, spannend, aber auch anstrengend – insbesondere für meine Mitmenschen, ganz gleich, welcher Nationalität. Nun muss ich eines gestehen: Ich kann nicht anders. Immerzu drängt sich mir der Vergleich auf – unbewusst, schleichend oder auch beabsichtigt und mit gezieltem Hintergrund, aber stets mit einer dicken Prise Humor und der Bereitschaft, mich selbst auf die Schippe zu nehmen.
Sie sind anders, diese Franzosen, meine Landsleute. Und nicht nur die Menschen, das ganze Land ist anders, die Straßen und Straßenschilder, die Häuser und Gärten, die ganze äußere Erscheinung. Würde ich auf einer langen Weltreise einschlafen und plötzlich mitten in einem kleinen französischen Ort aufwachen, ohne zu wissen, wo ich bin, ohne schriftlichen oder hörbaren Hinweis – ich würde es sofort erkennen, dieses Land, das so nah bei Deutschland liegt und doch so anders ist.
Franzosen leben in ihrer eigenen Welt, einer großen wunderschönen Insel, deren Zentrum Frankreich ist. Tief im Innern sind sie davon überzeugt, dass ihre Welt – mit ihren Gepflogenheiten, Gesetzmäßigkeiten und Grundsätzen – die einzig Wahre und Richtige ist und dass alle anderen Völker bzw. Länder sehr zu bedauern sind. Womöglich ist dies der tatsächliche Ursprung des Ausspruchs: Leben wie Gott in Frankreich. Denn wer vernünftig denkt, kann sich auch nach reiflicher Überlegung nur Frankreich als Wohnsitz aussuchen – oder?
Ganz im Gegensatz zu den Deutschen laben sich die Franzosen an ihrer Geschichte, obwohl auch bei ihnen in früheren Zeiten nicht alles so rosig war, aber darüber wird großzügig hinweg geschaut. Sie beweihräuchern sich mit den großen Siegen und mit den Helden, die diese vollbracht haben. Von Vercingétorix bis Napoléon – alle werden sie gefeiert, die Helden der Grande Nation. Waterloo? Wer denkt hier an Waterloo? Allenfalls in Zusammenhang mit einer netten Pop-Gruppe aus früheren Jahren. Und gleichermaßen genießen auch die „anciens combattants“, die Kriegsveteranen, noch immer Ruhm und Anerkennung für ihren Einsatz während der beiden Weltkriege, wenn alljährlich am 14. Juli, am Nationalfeiertag Frankreichs, am Grab des Unbekannten Soldaten vor dem Pariser Arc de Triomphe ein Kranz niedergelegt wird. Dann stehen sie alle da, in Reih’ und Glied, mit ihren Orden, Schleifen und Streifen, stolz darauf, dass man sie wieder zum Appell gerufen hat.
Und – welch Parallele – so werden alt und des Singens müde gewordene französische Chansonniers und Chansonetten immer wieder aus der Versenkung geholt und in Revival-Sendungen an ihre besseren Tage erinnert, als ihre Stimme noch nicht zitterte und ihre Titel noch die Hitparaden – damals nannte man sie noch nicht Charts – anführten.
So manch einer oder eine, wird man feststellen, ist gar nicht aus Frankreich gebürtig, hat sich aber mit viel Fleiß und einer Haltung, die an Verleugnung der eigenen Herkunft grenzt, sozusagen zum Beinahe-Franzosen hochgearbeitet. Er oder sie wurde dann vom gesamten Franzosen-Volk kollektiv-adoptiert. So erging es beispielsweise der Engländerin Petula Clark – wer hat noch nie die Melodie ihres Evergreens „Down town“ gesummt? -, der aus Israël stammenden Rika Zaraï, dem Algerier Enrico Macias und dem Belgier, ja, man kann es kaum glauben, sogar dem Belgier (1) Adamo ergangen.
Über eine ähnlich unverwüstliche Treue dürfen sich so kultige Comic-Figuren wie Asterix und Obelix (nein, Tintin et Milou, also Tim und Struppi, stammen aus Belgien – ja, schon wieder – aber wir Franzosen lieben sie, wie wenn WIR sie erfunden hätten…) freuen; eine schier unermessliche Nachsicht genießen so umstrittene Schauspieler wie Jean-Paul Belmondo, die legendäre „Bardot“, wie sie sogar in Deutschland genannt wurde, oder auch der Sänger und Komponist Serge Gainsbourg.
Als ich vor Jahren einmal mit dem Auto unterwegs nach Frankreich war, gab ein Radiosender (ich kann mich leider nicht mehr erinnern, welcher) die Ergebnisse einer Blitzumfrage zum Besten. Die zugegebenermaßen nicht sehr originelle Frage lautete: Was finden Sie an Frankreich liebenswert? Natürlich kamen die Standardantworten wie Rotwein, Baguette, Côte d’Azur und Crème brûlée… An eine Anmerkung kann ich mich auch heute – nach Jahren – erinnern, wenn auch nur sinngemäß: „Die Franzosen lassen sich nicht domestizieren und sind ziemlich in sich selbst verliebt“. Das lasse ich jetzt einfach mal so stehen…
Fortsetzung folgt…
(1) Für diejenigen, die es nicht wissen: Die Belgier sind für die Franzosen das, was die Ostfriesen für die Deutschen sind, und werden zuweilen sehr hart ‚rangenommen.
Liebe Giselle, wie wahr, Deine Worte. So verschieden diese beiden Nationalitäten und Länder in uns pochen, so schön ist es auch! LG, Nathalie
Grandios geschrieben, in zehn Jahren sind Sie eine Dichterin.
Ich wünsche Ihnen dann den „Plot“.
Mich umtreibt jetzt aber ein historisch/soziologisch/sozialpsychologisches Buch, das ich vor etwa 15 Jahren gelesen hatte. 400 Seiten ungefähr. Es ging um die Entstehung und die Erklärung der unterschiedlichen nationalen Mentalitäten. Super! Die deutsch-französische Wahrheit pur.
Leider kann ich mich weder an Buchtitel noch Autor erinnern. Aber wo ich es her hatte: Stadtbibliothek Oldenburg. Am 3. August werde ich wieder dort sein, und dieses Buch ausfindig machen.
Dann schreibe ich sofort.
Ganz herzlichen Dank, lieber Andreas, für das Lob und die Perspektive. Dichterin will ich eigentlich nicht werden ;-). Der Text ist Teil eines Buches, das ich schon seit längerer Zeit vorbereite.
Das Buch aus der Oldenburger Bibliothek interessiert mich natürlich brennend. Bin gespannt auf die Rückmeldung… und den Titel. Bis dahin viele Grüße.